In der Umarmung des Vergessens XIII.

 

Der Besuch IV.

Heute geht es ihr nicht gut. Ich sehe es sofort. Das Gesicht ist teigig. Ihre Augen sind rot. Die Bewegungen fahrig.
Sie sitzt auf dem Bett. Ich muss ganz nahe kommen. Dass sie mich erkennt. Sie sieht besonders schlecht. Wenn es ihr nicht gut geht.
Ich setze mich neben sie. Lege den Arm um ihre Schulter.

»Geht es dir nicht gut?«
Sie sieht zu Boden. Das Kopfschütteln ist mehr ein Zittern.
»Ist etwas geschehen?«
»Ich habe nicht geschlafen. Keine Minute.« Ihre Stimme klingt weinerlich. Hoch. Kindlich.
»Oje, warum denn nicht?«
»Sie waren alle da.«
»Wer war da? Die Schwestern?«
»Sie war auch da.«
»Die Ärztin?«
»Sie war auch da.«
»Gut, dass du nicht allein warst.«
Sie lächelt. »Da kommen sie alle. Sie war auch da.«
Ich nehme ihre Hände. Streichle sie. Auch ihren Oberarm. Ihre Wange.
»Das kennst du doch schon. Jetzt wird es wieder besser.«
Sie lehnt sich an mich. Nickt.
»Du bist auch da.«

 

In der Umarmung des Vergessens XII.

 

Von der Kraft

Es war nicht leicht. Nein. Ganz und gar nicht.
Es war nicht leicht. Ihr Weggleiten zu sehen. Es wahrhaben zu wollen. Zu können.
Sie war die Mutter. Ist plötzlich Kind.
Die Angst fraß sich in meinen Schoß. Der sie niemals geboren.
Die Angst fraß mich. Die ich aus ihrem Schoß geboren.
Ein Spiegel schob sich vor ihr Gesicht. Vor mein Gesicht.
Schon einmal ging ich ihren Weg. Beinah zu lang.

Es war nicht leicht. Nein. Ganz und gar nicht.
Doch endlich sah ich. Ihr Gesicht. Nicht mehr den Spiegel.
Sah den Weg. Zu ihr.
Von ihr.
Zu mir.

 

In der Umarmung des Vergessens XI.

 

Auch ohne Worte

Sie mag nicht essen. Will unbedingt, dass ich ihre Mahlzeit esse. Den Tee schüttet sie aus.
Nur Kekse. Will sie immer.

»Iss!«, drängt sie mich.
»Nein, ich esse erst später.«
Ihre Augen werden unruhig. Bleiben auf dem Papierkorb hängen. Sie schüttelt den Kopf.
»Dort kann ich nicht.«
»Dann lass es stehen. Die Schwester nimmt es wieder mit.«
»Iss du es.«
»Nein danke. Es ist dein Essen.«
Sie hebt den Teller auf. Stellt ihn wieder hin. Schüttelt erneut den Kopf.
»Dort kann ich nicht.«
»Schmeckt es dir nicht? Soll ich dir etwas mitbringen?«
Sie zuckt mit einer Achsel.
»Vielleicht … ein …« In ihrem Gesicht arbeitet es. »Ein … ein … du weißt schon …«
Ich denke nach, was sie immer gerne aß.
»Ein Schnitzel?«
Sie schaut zweifelnd drein.
»Einen gefüllten Paprika?«
Sie beißt sich auf die Lippen.
»Krautfleckerln?«
Sie sieht zu Boden.
»Na so … die …« Sie macht eine rollende Handbewegung.
»Fleisch?«
Kopfschütteln.
»Gemüse?«
Kopfschütteln.
»Du hast sie auch immer wollen. Ich habe sie für dich gemacht.«
Sie kochte gut. Wenn sie kochte. Wenn sie konnte. Es gab vieles. Das ich gerne aß. Wenn sie kochte. Wenn sie konnte.
»Nudeln, oder Reis oder so?«
»So ähnlich.« Ihre Hand rollt wieder durch die Luft.
»Was Süßes?«
Ihr Nicken wird deutlich.
»Palatschinken?«
»Ja!«, ruft sie. Klatscht in die Hände. Hüpft im Sitzen. Wie ein Kind.

Wieder geschafft …

 

In der Umarmung des Vergessens IX.

 

Theaterleben

Sie lebte auf einer Bühne. Spielte ein Stück. Das niemand verstand.
Ich brauchte Jahre. Es zu verstehen. Jahrzehnte.
Nach vorne strahlend. Immer freundlich. Perfekte Mutter. Geliebte Frau. Schönes Heim.
In den Kulissen wartete die Depression. Band ihr die Arme. Auf den Rücken.
Der Text kam aus dem Souffleurkasten. Für die Mutter. Für die Frau.
Auf dem Schnürboden hing schon das Vergessen. Auch das Vergessensein.

Der Vorhang wurde immer schwerer. Und doch. Tägliches Öffnen. Vor dem falschen Publikum.
Kein Applaus von mir. Nur von der Claque. Die in der ersten Reihe saß. Und von den Regisseuren in den weißen Mänteln.

Das neue Stück hieß Mitleid. Mit allem. Mit jedem. Nur nicht mit mir.
In den Pausen. Suche nach Botschaften. Von Hiob. Von Allen. Von Jedem. Nur nicht von mir.
Der Dialog wurde gestrichen. Der Monolog wurde geweint.

Das letzte Stück:
Perfekte Mutter. Noch immer. Das Spiel: Viele Besuche. Das gibt Applaus. Von ihr. Für sie.
Und in der Pause. Ein Eis. Von mir. Für sie.

 

In der Umarmung des Vergessens VIII.

 

Die Kinder waren wieder da

»Die Kinder waren wieder da.«
»Welche Kinder?«
»Ich kenne sie nicht. Aber sie hüpften auf dem Bett herum.«
»Waren sie allein?«
»Sie hüpften und warfen mit den Pölstern.«
»Hast du ihnen nicht gesagt, sie sollen aufhören?«
»Nein, es waren doch Kinder.«
»Und du? Was hast du gemacht?«
»Ich setzte mich hin und sah ihnen zu.«
»Waren sie lange hier?«
»Ich weiß nicht …«
»Wann waren sie hier?«
»Ich weiß nicht …«
»Warum hast du nicht die Schwester gerufen?«
»Ich konnte sie doch nicht allein lassen. Es waren doch Kinder.«
»Hat sie jemand abgeholt?«
»Nein.«
»Wo sind sie hingekommen?«
»Ich weiß nicht …«

 

In der Umarmung des Vergessens VII/I.

 

Der Ohrring I.

Gehen ließ sie sich nie. Äußerlich.
Bis vor kurzem duschte sie noch allein und wusch sich selbst die Haare. Täglich.
Schöne Hände hat sie. Immer noch. Wenn ich komme, lackiere ich ihr die Fingernägel. Silber.

Schmuck war immer wichtig. Auch Kleidung. Sind es auch heute noch.

»Wo ist dein Ohrring?«
»Es hat geblutet.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich habe nichts gemacht. Es hat geblutet.«
»Ist er kaputt?«
»Ich habe nichts gemacht.«
»Wo ist er? Wenn er kaputt ist, lasse ich ihn reparieren.«
»Sie haben ihn weggenommen.«
»Wer hat ihn weggenommen?«
»Sie stehlen wie die Raben.«
»Da ist er ja. Ich nehme ihn mit.«
»Er gehört mir.«
»Ja, aber er ist kaputt. Ich lasse ihn reparieren.«
»Ich habe nichts gemacht.«

 

In der Umarmung des Vergessens VII/II.

 

Der Ohrring II.

»Was hast du denn in deinem Ohr?«
Sie grinst glücklich.
»Allen gefällt es.«
»Aber das ist eine Sicherheitsnadel. Die musst du rausgeben. Dein Ohr kann sich entzünden.«
Der Ausdruck ihres Gesichtes wechselt. Wird weinerlich.
»Allen gefällt es.«
»Aber es kann sich entzünden.«
Sie drückt die Handfläche ans Ohr.
»Nächste Woche bekommst du deinen Ohrring wieder. Er ist noch in der Reparatur.«
Noch fester drückt sie die Hand aufs Ohr. Sieht mich nicht an. Um ihren Mund beginnt es zu zucken.
»Und es passt ja auch nicht zu deinem anderen Ohrring.«
Sie erschrickt sichtlich. Und lässt die Hand sinken.

 

In der Umarmung des Vergessens VII/III.

 

Der Ohrring III.

Ich suche nach Ohrclipsen. Überall wo ich hinkomme. Suche ich nach Ohrclipsen. Es ist nicht leicht, welche zu finden. Sie sind nicht mehr modern.
Seit der Verletzung an ihrem Ohr kann sie keine Ohrringe mehr tragen. Das Loch hatte sich entzündet und im Zuge der Heilung ist es zugewachsen.

Letztes Mal habe ich ihr Kreolen mitgebracht. Sie liebt Kreolen. Und endlich habe ich welche bekommen.
Heute drückt sie sofort die Hände an beide Ohren, als sie mich sieht.

»Was ist passiert?«, frage ich.
Ihr Blick ist unstet.
»Lass mich schauen!«
Sie schüttelt stumm den Kopf.
»Blutest du wieder?«, frage ich.
»Allen gefällt es«, antwortet sie ängstlich grinsend.
Ich nehme vorsichtig eine ihrer Hände. Der Schreck in ihrem Blick erschreckt auch mich.
»Allen gefällt es«, wiederholt sie.
Ich lächle sie erleichtert an.
»Auch mir gefällt es«, bestätige ich nickend.
In die Kreolen hat sie Sicherheitsnadeln gehängt. In beide.
Ich muss sie einfach küssen.