Am Beginn stand die Einladung.
Die Einladung eines Pflegeheims, eine Lesung vor an Demenz erkrankten Menschen zu halten. Demenz in einem doch recht weit fortgeschrittenen Stadium.
Zuerst war ich erschrocken. Nicht wegen der Lesung an sich, sondern ich dachte – WAS kann ich dort lesen? Meine Texte eignen sich dafür nicht.
Die Betreuer meinten, darauf käme es nicht so sehr an, es wäre wichtig, WIE.
Bei den Adventveranstaltungen, die ich dann besuchte, beobachtete ich genau. Die meisten der gut 20 Personen saßen dabei und schauten mehr oder weniger interessiert auf die Bewegung, die dort ablief. Den Wechsel der Pfleger, die ihre Texte vortrugen. Ihren Worten konnten sie offensichtlich nicht folgen.
Die Musik kam gut an und – die Gebete! Denn die erkannten offensichtlich alle noch. Und viele konnten auch noch Teile davon mitsprechen.
Ich erkannte, die Veranstaltungen waren liebevoll ausgerichtet, schienen mir jedoch nicht auf die Hörer abgestimmt.
Und plötzlich drängte eine Idee in mir hoch.
Es gibt Gedichte für Kleinstkinder, deren Bewusstsein ebenfalls noch nicht begriffsorientiert ist. Sondern Klang, Rhythmus und Emotion beim Vortrag den Zugang zu ihnen schaffen.
Wieso gab es so etwas eigentlich nicht für jene Menschen, die am anderen Ende des Astes saßen?
Ich wehre mich absolut gegen die oftmals vertretene Ansicht, alte Menschen würden wieder zu Kindern. Das ist einfach nicht so. Und nimmt diesen Menschen die Würde, die ihnen meines Erachtens, nach einem erlebten Dasein zusteht.
Alte Menschen werden zu alten Menschen und zu sonst gar nix. Und es kann passieren, dass alte Menschen bestimmte Fähigkeiten, die sie im Laufe ihres Lebens erworben haben, aufgrund von Krankheiten wieder verlieren. Das ist eben so. Und nichts anderes!
Das zu akzeptieren fällt vielen Menschen schwer. Weil sie ihre eigene Angst vor einem solchen abhängigen Zustand damit verdrängen wollen.
Doch liegt es nicht gerade an uns, diesen Menschen ihre Abhängigkeit in Würde zu gestalten? Sie zu gleichwertigen Partnern zu machen? Indem wir unsere bewusst steuerbaren Handlungen dafür verwenden, uns auf ihre Augenhöhe zu begeben, um sie zu erreichen.
Kinder müssen nun einmal von den Erwachsenen lernen. Das ist der Weg, den die Entwicklung nimmt. Aber alte Menschen müssen nicht mehr lernen, Sie müssen mit dem leben, das ihnen zur Verfügung steht, weil sie nicht mehr lernen können.
Die Anerkenntnis dieser Konstellation müsste einen gesunden, mitfühlenden Menschen dazu auffordern, Hilfe auf dieser Ebene anzubieten und nicht auf der Ebene der Besserwisserei.
Gibt es deshalb keine Gedichte für Demenzkranke?
Weil Lyriker ihre Kunst nicht auf diese Augenhöhe absenken wollen?
Weil Wortdrechselei und Sprachgewalt, sowie die Dichte eines schicksalsträchtigen Inhalts viel mehr Möglichkeiten bieten, den Intellekt oder den Gefühlsausdruck eines Autors zu bewundern? Wir nicht für Menschen schreiben, sondern für Anerkennung unserer vermeintlichen Genialität?
Finden wir Schreiber alte und kranke Menschen unserer Kunst nicht würdig?
Oder fehlt uns das Können, ohne den Schutzschild des Sprachschatzes Emotion ausdrücken zu können?
Und es reifte der Entschluss in mir, diese Anregung zu verfolgen.
Die Reduktion erschien mir plötzlich verheißungsvoll zuzuwinken. Hier zeigte sich eine enorme schreiberische Herausforderung, dachte ich. Denn ich wollte keine therapeutischen Texte schreiben. Sondern Gedichte.