In der Umarmung des Vergessens II.

 

Der Besuch II.

Und wieder steht sie vor mir. Es geht ihr gut. Ich sehe es. Die Freude wächst aus meinem Bauch. Ihre wächst in ihr Gesicht.
Ich umarme sie. Klein ist sie geworden. Zugenommen hat sie. Die vielen Kekse. Und doch fühlt sie sich so zerbrechlich an.
»Wie geht es dir?«, fragt sie.
»Mir geht es gut, aber wie geht es dir?«
»Na gut«, antwortet sie. Schüttelt den Kopf. Beinahe erstaunt.
Jetzt lächle ich. An die vierzig Jahre lang habe ich diesen Ausspruch nicht von ihr gehört. Sie hat vergessen, dass es ihr nie gut ging.
»Ist es nicht schön hier?«, fragt sie mich. Ich nicke.
»Du musst es einmal am Abend sehen. Da sitze ich dort draußen. Es ist ganz ruhig. Nur ein paar Lichter.«
»Siehst du sie denn?« Ich bin überrascht. Seit Jahren ist sie so gut wie blind. Vor allem für die Ferne.
Sie nickt. »Es ist so schön. Ganz ruhig. Jedem gefällt es, der zu mir kommt. Es ist wirklich schön. Jeder sagt das.«
»Mir gefällt es auch. Bist du froh, dass du hier bist?«
Sie nickt. »Es ist so schön. Alle kommen … Allen gefällt es bei mir. Sie kommen … alle … gern.«
»Mir gefällt es auch.« Ich küsse sie auf die Schläfe.

Ja, endlich komme ich auch gern.
Es war nicht immer so.

 

In der Umarmung des Vergessens I.

 

Der Besuch I.


Sie steht in der Mitte des Zimmers. Ihre Augen werden groß. Ein überraschtes Grinsen überzieht ihr Gesicht.
»Na endlich! Ich dachte, du kommst gar nicht mehr!«
»Ich war doch erst vorgestern hier.«
Sie wendet sich ungläubig lächelnd ab. Mit trippelnden Schritten geht sie zum Tisch. Zupft an dem Kunstblumenstrauß. Echte darf sie hier nicht haben.
Die mitgebrachte Kekspackung entlockt ihr ein glückliches: »Das hilft mir.«
Sie schaut sich suchend um. In ihrem Gesicht arbeitet es.
»Ich gebe sie dir in dein Nachtkästchen.«
»Nein, dort finden sie sie gleich.«
»Wer?«
»Hier stehlen sie wie die Raben.«
Auf dem Mülleimer liegt zusammengefaltet der Überzug der Bettdecke.
»Warum hast du das Bett abgezogen?«
»Ich kann es nicht, es ist mir zu schwer.«
»Du brauchst es doch nicht selbst zu machen. Die Schwestern machen das schon. Aber warum hast es abgezogen?«
»Ich kann es nicht. Früher habe ich es immer gemacht. Ich kann es nicht mehr.«
»Komm, ich mache es.«
»Ich kann es nicht, es ist mir zu schwer.«
Sie trippelt zum Kasten. Wühlt in den Laden.
»Du musst mir … ich habe keine …«
»Was suchst du denn?«
Sie zeigt auf ihre Füße. An jedem Fuß ein anderer Socken.
»Sie haben sie mir weggenommen.«
»Aber da sind sie ja.«
»Wie hast du sie gefunden?«
»Hier sind sie doch.«
»Sie haben dich gesehen und sie rasch wieder hineingelegt.«
»Niemand nimmt dir etwas weg. Du vergisst nur manchmal ein bisschen was.«
»Du hast keine Ahnung, wie es hier zugeht.«
Wieder starrt sie auf ihre Füße.
»Ich habe keine …«
»Komm, wir gehen auf ein Eis. Ja?«
»Ich kann nicht. Ich habe keine …«
»Du brauchst keine. Komm, wir gehen.«
»Aber wenn ich weggehe, kommen sie.«
»Nein, niemand kommt. Ich schaue dann nach, wenn wir zurück sind.«
»Brauche ich einen Stock?«
»Nein, ich bin ja bei dir.«
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«

 

Gedanken über die Mutterliebe/I.

 

1.

Wir wissen von verschiedenen Forschungsergebnissen, dass ein Embryo bereits die Stimmungen der Mutter übernimmt. Weiters ist, denke ich, bereits unbestritten, dass die ersten Lebensjahre (vornehmlich bis zum zweiten) für die Konditionierung des Gefühlshaushaltes eines Menschen am wesentlichsten sind, die dem Prozess der Individuation zugrunde liegt.

Daraus ergibt sich für mich eine logische Schlussfolgerung:
Ein Kind in dieser Zeitphase kann im Prinzip nur emotionale Erfahrungen machen. Erst nach und nach werden diese von den bewussten überlagert. Und dort entstehen dann natürlich enorme Ambivalenzen. Weil der bewussten Wahrnehmung oft gefühlsmäßig etwas ganz anderes zugrunde liegt.

Also –
Eine Mutter, die z.B. in ihrem Leben überfordert ist, wird keine gute Stimmung auf ihr Kind übertragen können. Das Kind wiederum hat aber keine Möglichkeit, zu unterscheiden. Es wird diese Stimmung mit sich selbst in Zusammenhang bringen.

Wenn nun beispielsweise die Mutter Streit mit ihrem Chef oder dem Finanzamt hat, dann kann es passieren, dass das Kind dies auf sich bezieht und ein Schuldgefühl entwickelt! Dieses Schuldgefühl kommt aus der untrennbaren Symbiose von Mutter und Kind. Wir werden dieses Schuldgefühl auch später empfinden, wenn wir der Selbstliebe nicht folgen. Z.B. wenn wir zu viel essen! Das ist in den meisten Fällen nicht selbstliebend – und das Schuldgefühl dafür ist ein gängiger Faktor in unserer Gesellschaft.

Wie wir sehen, sind zu diesem Zeitpunkt also Mutter und Kind eins und unterliegen deshalb miteinander dem Prinzip der Selbstliebe.
Wie man sich leicht vorstellen kann, erzeugt die Ambivalenz in diesem Einssein enormen Schmerz. Das Kind wird sich schützen. Und in den meisten Fällen wird es emotional der Mutter folgen, weil es keinen anderen Schutz kennt – und eigentlich auch gibt.
Dann kommen die bewussten Erfahrungen und die „Erziehungsphase“. Dann stimmt oft gar nichts mehr. Das Kind wird wie ein Schilfrohr im Wind schwanken zwischen dem Folgen der Mutter oder der Abwendung. Aber – und das ist jetzt der springende Punkt: Es wird ihm nie mehr im gesamten Ausmaß bewusst werden, wo und wann dieser Weg eingeschlagen oder verlassen wird. Und zwar bei allen Entscheidungen des täglichen persönlichen Erlebens. Denn auch wenn das Kind sich im Unbewussten an der Mutter orientiert, wird bei sehr vielen der bewusste Weg in das Gegenteil verfallen.

Wir alle kennen die Fälle, wo Kinder von alkoholkranken Müttern ebenfalls alkoholkrank werden, oder andererseits zu militanten Antialkoholikern werden.
Daraus ergibt sich aber wieder offenkundig, dass Mütter in den seltensten Fällen mit ihrem Leben im Einklang stehen. Schon allein aus der Dynamik, die sich daraus ergibt.

Und deshalb sage ich immer: Das Gegenteil ist nur dasselbe. Weil es keine Lösung der Mutterbindung mit sich bringt.
Man muss lernen, etwas ANDERES zu machen.

Interessant wäre natürlich in diesem Zusammenhang, wie Menschen, die sich nicht von ihren Müttern geliebt fühl(t)en, denn die Liebe ihrer Mütter als richtig angesehen hätten. Wo liegt die Wurzel dieser Aussage, woran wird sie festgemacht?
An der mangelnden Betreuung, sei es seelisch oder körperlich? Ist diese ein Kriterium dafür, dass man die Liebe der Mutter fühlen kann?

Ich glaube nicht!

Es kann auch eine schwerkranke Mutter, die ihr Kind nicht betreuen kann, ihr Kind lieben und es muss für dieses voll spürbar sein. Also – wo ist dieser Knackpunkt?

 

Weiterlesen >>> Gedanken über die Mutterliebe II.

 

Gedanken über die Mutterliebe/II

 

2.

Daraus ergibt sich natürlich logischerweise, dass andererseits eine Mutter, die ihr Kind „perfekt“ betreut, dies noch lange nicht aus Liebe machen muss.
Sie kann das aufgrund von Neurosen machen
• aus Minderwertigkeitsgefühl – um anderen etwas beweisen zu wollen
• was auch oft vorkommt: um ihren Besitz zu pflegen
• kann ihre eigenen Defizite damit decken wollen

und da gibts noch einiges, wie sich denken lässt.
Und all das, um sich selbst den Schmerz der Erkenntnis sparen zu müssen, nicht lieben zu können.
Und wie wir vorher schon „gelernt“ haben, sich selbst nicht lieben zu können. Denn das ist der größte Schmerz im Leben eines Menschen.

Nicht, wenn ihn seine Mutter nicht liebt, oder der Ehepartner. Schon gar nicht, wenn das Kind ihn nicht liebt, sondern wenn die Selbstliebe fehlt, dann gibt es keine Liebe im Leben eines Menschen und er setzt mehr oder weniger Ersatzhandlungen, um sich diesen Schmerz zu ersparen. Füllt sein Leben mit Ersatz, weil die wesensgerechte Fülle fehlt.

Aber ein erwachsener Mensch ist für seine Selbstliebe selbst verantwortlich!
Wenn ihn seine Eltern diese also nicht lehren oder vorleben konnten, dann kann er sie als Erwachsener noch jederzeit lernen und ist dann auch dafür zuständig. Und nicht mehr die Mutter …

Da die Mutter eines Erwachsenen nicht mehr in dem Einssein-Paket enthalten ist, kann er sich eindeutig selbst dafür und dazu entscheiden, WIE er liebt.
Nur – wenn es LIEBE sein soll, und nicht das Weiterführen der dynamischen Vorgänge, die die Altvorderen in ihn abgesenkt haben, dann muss aus der Selbstliebe Liebe erwachsen, also auch die Liebe zur Mutter – egal was sie getan hat … DAS wäre das ANDERE.

Die Liebe zur Mutter ist deshalb so wichtig, weil sie Liebe zu den Wurzeln eines Menschen ist, weil er ohne seine Mutter ja nicht in und auf dieser Welt wäre. Da ist keine Dankbarkeit vonnöten, wie das leider von so vielen Müttern „gefordert“ wird, aber die Liebe schon.
Lieben ist ein Prozess der Weiterentwicklung. wo eines aus dem anderen erwächst. Wenn wir also das nicht lieben, woraus wir erwachsen sind, dann fehlt uns eindeutig die Grundlage unserer Liebe. Denn wie wir sofort erkennen können, die Grundlage zur Selbstliebe.

Und noch etwas:
In der gesamten Schöpfung ist es so, dass Eltern ihre Kinder bis zu ihrem Erwachsensein begleiten und dann werden sie losgelöst.
Nur dem Menschen ist diese selbstverständliche Loslösung verstellt und zwar aufgrund seines Bewusstseins, aufgrund der Möglichkeit, bewusst eingreifen zu können. Nun könnte der Mensch sich bewusst zur Liebe entscheiden, zu seiner menschlichsten Fähigkeit. Das tut er leider aber meistens nicht. Und zwar aufgrund von dynamischen Vorgängen! Nicht aus Mangel an Mutterliebe!

Aber Pflege, Betreuung, Betüdelung kommen aus dem Sozialbedürfnis und sind kein unbedingtes Indiz dafür, lieben und Liebe weitergeben, bzw. ausdrücken zu können.