Natürlich kamen als nächstes die Gedanken – ja, ICH habe noch Aufschub … Und – ICH kann auch jederzeit wieder hinausgehen … Und doch fühlte ich, wie die Beklemmung stieg, als ich durch das so entschärfte Tor trat.
Ein großer, mit hellem Kies belegter Platz breitete sich vor mir aus, an beiden Seiten begrenzt von zwei ordentlichen, weißen Gebäuden, der ehemaligen Häftlingsküche auf der linken und dem Waschhaus auf der rechten Seite. In diesem ist die Dauerausstellung „KZ Flossenbuerg 1938-1945“ untergebracht.
Die beiden langgestreckten Häuser gehören zu den ganz wenigen komplett erhaltenen Bauwerken des ehemaligen Konzentrationslagers. Flossenbürg ist eine Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen KZs, das Lager selbst ist schon lange abgerissen.
Vor dem Ausstellungstrakt lagerte eine große Gruppe junger Amerikaner auf einem Rasenstreifen und wartete auf eine Führung. Der riesige Platz war leer und lag voll in der Sonne. Kein Bröselchen Schatten gab es, jeder einzelne Grashalm auf dem gepflegten Kies wäre zu sehen gewesen. Aber hier wächst kein Gras. Auf dem ehemaligen Appellplatz schämt sich scheinbar sogar das Unkraut.
Alles wirkte adrett und sauber. Weiße Häuser, weißer Kies … Im Hintergrund des Platzes viel Grün. Über der ehemaligen Häftlingsküche erhebt sich ein bewaldeter Hügel. Der dort installierte Wachtturm könnte auch als Aussichtsturm durchgehen. Es sah ein wenig aus, wie der Wirtschaftstrakt eines Schlosses, das man besichtigen könnte, wenn man durch den Park an der Stirnseite spazierte.
Ich ging ein paar Schritte auf die Mitte des Platzes zu. Die Hitze flirrte, mir brach der Schweiß aus. Der kalte Schweiß! Der knirschende Kies schien durch meine Schuhsohlen zu dringen. Als ich auf den Boden sah, zerfiel der weiße Kies zu grauer Asche. Ich blieb stehen.
Asche, wieso Asche?, dachte ich. Blut müsste hier wogen …
Ich machte wieder ein paar Schritte.
Seltsam, dachte ich weiter, wenn man an Appellplätze in Lagern denkt, dann denkt man immer an grimmige Kälte, in der sich die viel zu dünn bekleideten Häftlinge herumschleppen. Immer ist alles grau in grau – vielleicht liegt das auch daran, dass nur Schwarzweißfotos aus dieser Zeit existieren. Doch es musste auch heiße Tage gegeben haben. Sich dieses Geschehen unter dem Blick der strahlenden Sonne vorzustellen, bekam eine zusätzliche Facette des Hohns für mich. Eine Fliege umsummte mich. Ja, die Fliegen! Wie Leichenfledderer mussten sie sich in Schwärmen auf den müden Gestalten niedergelassen haben. Doch wahrscheinlich zählte das für die Menschen hier zu den kleinsten Übeln.
Ich zog meine Füße aus dem Schlamm, in welchem sie in der Zwischenzeit gefühlt gesunken waren und stakste vorsichtig weiter, weil der Boden unter meinen Füßen keinen Halt bot. Irgendwo hier musste der Galgen gestanden sein. Und die Baracken waren rundherum angeordnet gewesen, soweit ich mich an meine Vorinformation erinnerte. Nichts an diesem Platz deutet mehr darauf hin!
Zur linken Seite hinter der Häftlingsküche befinden sich auf dem ehemaligen Barackenareal schmucke Einfamilienhäuser, auf der rechten Seite große weite Flächen, wo ich von meinem Standort aus erkennen konnte, dass es sich um Fundamente von Gebäuden handelte. Dahin würde ich zum Abschluss meines Rundganges kommen.
Ich schritt auf sattes Grün zu. Und wirklich, als ich den Platz verließ, überrumpelte mich der Anblick einer idyllischen Parkanlage. In der Ferne wieder einer der „Aussichtstürme“. Und wieder erwartete ich, an einem Rand ein Schloss zu entdecken, zu dem diese wunderschöne Parkanlage gehörte.
Die Ambivalenz in meinem Inneren ließ mich taumeln. Mein Erfassungsvermögen war zu gering für diese Diskrepanz. Augenblicke lang hatte ich das Gefühl, ich müsste platzen. Auch hier waren Baracken gewesen, das wusste ich. Von Grün war hier sicher niemals auch nur die Spur. Dieser Platz, der mit Grauen und Leiden getränkt sein musste, lag in einer Lieblichkeit vor mir, die mir im Moment ebenfalls wieder wie blanker Hohn erschien. Lediglich ein paar Steinkreuze mahnten zwischen Vergissmeinnicht …