Nur wenige Schritte weiter befindet sich die Kapelle „Jesus im Kerker“. Sie wurde von Überlebenden nach dem Krieg zum christlichen Gedenken an die Gequälten und Ermordeten errichtet.
Die Kapelle befindet sich auf einem Areal, das sich bereits außerhalb des ehemaligen Lagerzauns befindet. Um das Martyrium der Arbeit im Steinbruch zu symbolisieren, wurde sie aus den Granitsteinen abgerissener Wachtürme und Baracken gebaut. Dies wird ganz deutlich, weil sich unmittelbar daneben noch einer dieser kurios harmlos wirkenden Wachtürme befindet.
Wer mich kennt, weiß, dass ich in Jesus meinen „göttlichen Gesprächspartner“ gefunden habe.
Deshalb war meine Spannung besonders groß, als ich nun durch das dunkle Tor der Kapelle trat.
Das Innere lag im Dämmerlicht, das durch wenige bunte Glasfenster hereinkam.
Unter den Fenstern waren Gedenktafeln angebracht. Und auch die Fenster hatten Motive, die die Aufmerksamkeit auf die Opfer verschiedener ethischer Gruppen lenken sollten.
Mein Blick wurde aber selbstverständlich von der Kreuzigungs-Gruppe angezogen, die sich an der Stirnwand der Kapelle befindet. Die Szene unter dem Kreuz war nicht die übliche. Keine weinenden oder betenden Frauen lagerten vor dem Kreuz, sondern hier wurde ein Steinmetz geprügelt. Ein Kind klammerte sich verzweifelt an seine Mutter. Wie es schien, trug sie ihre Habseligkeiten auf der Schulter. Waren sie auf der Flucht? Oder schleppte die Frau auch Steine?
Langsam ging ich darauf zu, suchte das Gesicht des Herrn.
Herr, sagte ich, sie haben nichts gelernt. Du bist umsonst diesen brutalen Tod gestorben.
Nein, antwortete Er, ich musste es zumindest versuchen. Und du weißt doch, es geht um die Auferstehung. Das ist das Besondere an meinem Tod, nicht die Quälerei durch die Menschen, die ihre Selbstverantwortung nicht kennen.
Auferstehung!
Genau das war es. Das war die Antwort auf die Diskrepanz, die ich zu Beginn meines Rundganges gefühlt hatte. Einerseits auf schmerzvolle Bilder förmlich zu warten und andererseits keine schmerzlichen Eindrücke erfühlen zu können, weil die Lieblichkeit des Ortes in so starkem Kontrast zu dem stand, das ich mit Erinnerung und Gedenken, im Zusammenhang mit dieser furchtbaren Zeit, verband.
Man musste all diesen Opfern gegenüber die Liebe auferstehen lassen.
Wie Christus haben sie gelitten, um uns etwas aufzuzeigen. Wer diese Botschaft nicht versteht, ist ein Verdammter. Auf ewig!
Aus ihrem Leiden musste Frieden wachsen, um ihrem Leid den einzig möglichen Sinn zu geben. Sie haben – wie Jesus! – dafür gelitten, dass wir an ihrer Geschichte lernen können, wohin unmenschliches Verhalten führt.
Nun ist es an der Zeit, in ihrem Gedenken Frieden zu leben. Ihn aus ihrem Grund wachsen zu lassen!
Es war im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Geschichte gewachsen. Und das war gut. Das hatte nichts mit Vergessen zu tun. Sondern mit Auferstehung.
Immer weiteres Verharren in den grausamen Bildern würde den damaligen Opfern die Liebe entziehen, weil wir uns selbst dadurch zu Opfern machen, zu Opfern unentrinnbaren, weil immer wiederkehrenden Grauens. Angst und aufsteigende Hilflosigkeit rücken bei ihrem Anblick in den Vordergrund, lassen die Nähe zu diesen Menschen nicht mehr zu. Wir distanzieren uns – wenn auch oft unbewusst.
Man kann das sehr leicht beobachten, wie schwer es den Menschen z. B. fällt, Schwerkranke oder Behinderte anzusehen, sie zu berühren – sie zu lieben
Nicht Mitleid brauchen alle diese Menschen. Mit anderen zu leiden, bringt niemandem etwas. Und schon gar nicht aus der Distanz von Jahrzehnten. Mitgefühl ist wichtig. Das Aufnehmen ins Innere in Liebe, nicht in Angst und Abscheu.
Auferstehung!
Jesus zeigte es. Nach all der ihm angetanen Pein stand er auf, um uns den weiteren Weg aufzuzeigen.
Und auch die Menschen in den Konzentrationslagern können wir heute in Liebe auferstehen lassen, damit sie uns den weiteren Weg zeigen. Wenn wir sie nicht dazu verdammen, auf immer und ewig für das Grauen in der Welt als Modelle dazustehen.
Auch sie würden wohl viel lieber als geliebte Erinnerung in unseren Herzen bleiben wollen, oder als Träger, auf deren Schultern eine bessere Welt zustande kam.
An diesem Ort wurde mir klar, dass den damaligen Tätern nicht auch heute noch die Macht eingeräumt werden durfte, diesen Opfern sogar die liebende Erinnerung zu verwehren, und sie auch heute noch nur als ausgemergelte Gestalten durch die Weltgeschichte zu schicken, die Grauen und Schrecken verbreiten.
Schicken wir sie lieber als jene Menschen in die Welt, auf deren Rücken der Frieden wachsen soll und denen wir dafür in dankbarer Liebe gedenken. Auf jeder grünen Wiese, an jedem Blümchen, an dem wir schnuppern können, weil sie für unseren Frieden gestorben sind.
<<< Teil I – Ankunft
<<< Teil II – Der Appellplatz
<<< Teil III – Gedenkstätten
Teil V – Das Tal des Todes >>>
Ich bedanke mich ausdrücklich und herzlich bei Bernhard Ruehl, der mir seine Fotos von den Kirchenfenstern zur Verfügung stellte, da meine eigenen leider unbrauchbar waren.