Lange blieb ich stehen, versuchte meine Gefühle zu orten. Was spürte ich hier? Was?
Spüren? Oder denken?, war die erste Frage, die ich mir stellen musste.
Die Ambivalenz kam eindeutig aus dem Konglomerat aus beidem. Ich weiß nicht mehr, was ich erwartet hatte, aber mit Sicherheit war es etwas anderes gewesen. Meine Erwartungshaltung biss mich ins Bein. In diesem Augenblick schmerzte die Wunde noch brennend.
Wie immer, und besonders in schmerzhaften Situationen, versuchte ich mich aufs Spüren zu konzentrieren, das Denken so weit wie möglich auszuschalten.
Die grüne Weite in meinen Augen, das laue Lüftchen an dem schattigen Platz, an dem ich stand, luden zum Verweilen ein. Also blieb ich.
Langsam löste sich der Aufruhr in meinem Inneren. Ich spürte, wie das Leben weiterging. Es schien, als spürte ich das Gras wachsen. Die Ewigkeit des Hier-und-Jetzt hatte mich erreicht.
Ich schloss die Augen, um von dem Ausblick nicht länger abgelenkt zu sein.
Aus meinem Bauch stieg Wärme in mein Herz. Demut – an diesem Ort stehen zu können, satt und sicher.
Gedenken war so wichtig, jedoch die Art und Weise des Gedenkens konnte doch ebenso von der anderen Seite aufgerollt werden. Musste man wirklich Gedenken gleichsetzen mit Darstellung von Gräueltaten und bluttriefenden Dokumenten?
Niemals war ich dafür. Auch in den Aktionen, an denen ich mich beteiligte, z.B. für hungernde und missbrauchte Kinder. Nicht die Darstellung ihrer Not brachte Linderung. Sondern das Aufzeigen von Möglichkeiten, Aufforderung zum Schulterschluss, zur Solidarisierung mit jenen, denen das Schicksal anderer Menschen nicht egal war, die bereit waren, genau hinzusehen und dann die Ärmel aufkrempelten.
Die Darstellung der Gewalt, die in immer brutalerer Form gezeigt wird, macht dem Menschen soviel Angst, dass die meisten keine andere Möglichkeit finden, als abzustumpfen, nicht hinzusehen, zu verdrängen, was sie sehen.
Soviele Jahrzehnte nach den furchtbaren Geschehnissen des Holocaust war es an der Zeit zu gedenken, ja, immer wieder! Aber es war auch schon lange der Zeitpunkt gekommen, nicht mehr in Blut und Asche herumzustochern und sie immer wieder aufzuwühlen. Kriminelle Potentiale dadurch weiter zu schüren, die schaurigen Bedürfnisse pathologisch verkrüppelter Seelen immer wieder zu erfüllen, ihnen immer weiter negative Vorbilder zu geben. Ihnen Macht zu geben, weil diese sich an dem Anblick aufgeilen und sich immer wieder daran ergötzen, was bedeutet, dass es beinahe die einzigen sind, die sich das auch wirklich ansehen. Alle anderen verdrängen doch lieber …
Der Mensch muss aus der Opferrolle heraustreten, um kein Opfer zu bleiben.
Dazu gehört es auch, an den Opfern nicht festzuhalten. Dass es diese Opfer gab, muss unbestritten bleiben, dass ihr Leiden unermesslich war, ebenfalls, aber aus ihrem Leid muss Solidarität erwachsen, solches Leid in Zukunft vermeiden zu wollen. Dann hat ihr Leiden Sinn erwirkt.
Wenn wir lediglich an ihrem Leid festhalten, dann werden wir zu Voyeuren! Die sich ihr Leid anschauen, wie durch ein Zeitfenster und dann den Vorhang fallen lassen, um zum Alltag überzugehen.
Nein! Hier war eine Gedenkstätte und kein makabres Museum.
Ich öffnete die Augen wieder. Hier war Möglichkeit zur Meditation, zum wahren Gedenken in Freiheit. Auf dieser Basis konnte man positiv weitergehen.
ICH wollte weitergehen! Und ich folgte dem Weg noch interessierter, weil die unsichere Spannung von mir abgefallen war.
Die steinernen Kreuze wurden nun von halbrunden Gedenksteinen abgelöst.
Auf der linken Seite des Weges stand die Jüdische Gedenkstätte. Ein – wie so oft leider, wenn Architekten im Spiel sind – seltsam hässliches kleines Gebäude, in welchem man eher die öffentliche Toilette vermutete. Aber davon wollte ich mich nicht irritieren lassen. Lästermaulrülpser meinerseits über architektonische Missbildungen waren bei anderen Objekten angebrachter.
Die Juden waren in der Hierarchie des Lagers die allerletzten. Ein Beispiel: Es gab Prämienscheine für Minivergünstigungen, wie mal ein zusätzliches Stück Brot oder für einen Besuch im Lagerbordell (wo weibliche Gefangene, die in Außenlagern untergebracht waren, zur Prostitution gezwungen wurden!). Die meisten dieser Scheine wurden willkürlich verteilt, wahrscheinlich um den Kapo noch besser heraushängen lassen zu können. Juden waren grundsätzlich von diesem Prämiensystem ausgeschlossen …
Die Tür zur Gedenkstätte stand offen.
Der Blick in das Innere ließ mich wieder still werden. So hässlich das Gebäude von außen war, die Schlichtheit und die Anordnung des Innenraums bescherten mir beim Eintreten sofort besinnliche Ruhe. Hier gab es nichts Anklagendes, auch hier keine Darstellung von Gewalt. Auch hier wurde der Besucher einfach auf sich selbst zurückgeführt.
Das Schattenspiel des Davidsterns im Dachfenster des kleinen Turmes wirkte in diesem Raum wie eine Lichtinstallation.
Ein kurzes Verweilen an der Mahntafel, dann trat ich in trauriger Ruhe wieder in die Sonne, um meinen Weg fortzusetzen.
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