In der Umarmung des Alters IV.

 

Sehen und gesehen werden.

Sehen.
Natürlich trage ich eine Brille. Und natürlich ist sie bunt. Ich sehe damit, was ich sehen will. In der Nähe sehe ich besser. Und das ist gut. Nähe ist wichtiger geworden. Nähe richtig zu erkennen.
Für die Weite nehme ich die Brille ab. Alles wird weich. Und ich sehe mit dem Herzen.

Gesehen werden.
Ist nicht mehr so wichtig. Ich will auf kein Plakat. Und auf keine Bühne mehr.
Will die Nähe. Und die – sehe ICH.

 

In der Umarmung des Alters III.

 

Paradiesisch

Nichts mehr zu müssen.
Ein paradiesischer Zustand. Der nur von wenigen erkannt wird. Ich verstehe das nicht. Ich genieße.
Ein Leben lang habe ich gearbeitet. Für andere. Für mich. An mir.
Jetzt ernte ich.
Natürlich habe ich es gut. Ich war nie Sportlerin. Ein Manko in früheren Jahren. Heute nicht mehr.
Und mein Körper dankt es mir.
Apropos Körper. Ich liebe meinen Körper. Endlich. Früher und noch früher waren alle schöner. Waren alle schlanker. Dachte ich. Heute nicht mehr. Heute denke ich.
Heute sehe ich aus, wie man in meiner Altersgruppe aussieht. Vielleicht entspannter als so viele. 5 Jahre mehr. 5 Jahre weniger. Oder gar 10? Wen interessiert’s? Ich habe nicht verloren. Die anderen schon.

Gedanken habe ich mir gemacht. Viele. Immer geforscht. Immer gesucht. Oft wurde ich dafür belächelt. Heute lächle ich. Meine Gedanken haben mir Wege gezeigt.
Das Alter zu genießen. In innerer Jugend. Nicht in äußerer.

 

In der Umarmung des Alters II.

 

getarnt

Ich färbe mein Haar. Herbstrot. Lodernd. Orange. Ich werde es noch mit neunzig tun. Es ist mein Leuchtturm. Werde sofort gesehen. Und meine Tarnkappe. Bedecke ich es, bin ich unsichtbar.
Es ist angenehm. Sich selbst anknipsen zu können. In Gesellschaft. Nur mehr gesehen zu werden, wenn man es will.
Niemand stellt meiner Jugend nach. Meinem Arsch. Meinem Busen.
Und sieht nicht mich. Und hört nicht mich. Und liebt nicht mich. Ist nur verliebt. In die Jugend.

Ich gebe was ich tue. Ich gebe was ich bin. Ich gebe meine Jugend. Mir. Und dem der sie erkennt. Hört er meine Worte. Sieht er in meine Augen. Sucht nicht mein Haar.

 

In der Umarmung des Alters I.

 

Wie hoch noch?

Älter wollte ich sein. Immer schon. Die meisten Menschen wollen das. Kinder sowieso. Auch die Jugendlichen. Erwachsene verschieben ihr Leben auf später.
Bei vielen verliert sich der Wunsch des Älterwerdens. Irgendwann. An seine Stelle tritt Ambivalenz. Später die Angst. Nicht so bei mir. Ich möchte immer noch älter werden. Und bin doch für die meisten schon alt.
Die Höhe, die ich nun erreicht habe, gab es vorher nie. Zu viel Ballast beschwerte meine Tage. Jetzt ist das Fliegen leichter.
Die Spannung steigt. Wie hoch werde ich schwingen?

 

In der Umarmung des Vergessens VII/I.

 

Der Ohrring I.

Gehen ließ sie sich nie. Äußerlich.
Bis vor kurzem duschte sie noch allein und wusch sich selbst die Haare. Täglich.
Schöne Hände hat sie. Immer noch. Wenn ich komme, lackiere ich ihr die Fingernägel. Silber.

Schmuck war immer wichtig. Auch Kleidung. Sind es auch heute noch.

»Wo ist dein Ohrring?«
»Es hat geblutet.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich habe nichts gemacht. Es hat geblutet.«
»Ist er kaputt?«
»Ich habe nichts gemacht.«
»Wo ist er? Wenn er kaputt ist, lasse ich ihn reparieren.«
»Sie haben ihn weggenommen.«
»Wer hat ihn weggenommen?«
»Sie stehlen wie die Raben.«
»Da ist er ja. Ich nehme ihn mit.«
»Er gehört mir.«
»Ja, aber er ist kaputt. Ich lasse ihn reparieren.«
»Ich habe nichts gemacht.«

 

In der Umarmung des Vergessens VII/III.

 

Der Ohrring III.

Ich suche nach Ohrclipsen. Überall wo ich hinkomme. Suche ich nach Ohrclipsen. Es ist nicht leicht, welche zu finden. Sie sind nicht mehr modern.
Seit der Verletzung an ihrem Ohr kann sie keine Ohrringe mehr tragen. Das Loch hatte sich entzündet und im Zuge der Heilung ist es zugewachsen.

Letztes Mal habe ich ihr Kreolen mitgebracht. Sie liebt Kreolen. Und endlich habe ich welche bekommen.
Heute drückt sie sofort die Hände an beide Ohren, als sie mich sieht.

»Was ist passiert?«, frage ich.
Ihr Blick ist unstet.
»Lass mich schauen!«
Sie schüttelt stumm den Kopf.
»Blutest du wieder?«, frage ich.
»Allen gefällt es«, antwortet sie ängstlich grinsend.
Ich nehme vorsichtig eine ihrer Hände. Der Schreck in ihrem Blick erschreckt auch mich.
»Allen gefällt es«, wiederholt sie.
Ich lächle sie erleichtert an.
»Auch mir gefällt es«, bestätige ich nickend.
In die Kreolen hat sie Sicherheitsnadeln gehängt. In beide.
Ich muss sie einfach küssen.

 

In der Umarmung des Vergessens VI.

 

Der Besuch III.

Die Freude fühlt sich warm an. Meine. Und auch ihre.
»Hier ist es so schön«, sagt sie. »Jedem gefällt es. Alle sagen, bei mir ist es am schönsten.«
»Es ist auch wirklich schön hier«, bestätige ich. »Von wem hast du die Puppe bekommen?«
»Die gehört mir.«
»Ja, aber von wem hast du sie bekommen? Die ist wirklich hübsch.«
Ihre Augen werden unruhig. Sie bringt ihr Gesicht ganz nahe an die Puppe. Ihr Oberkörper schaukelt von links nach rechts.
»Ich … ich …«. Sie greift nach der Puppe. »Da hast du sie«, stößt sie dann heraus.
»Nein, lass nur, es ist deine Puppe.«
»Aber … wenn … ich … du …«
Ich umarme sie. »Lass nur, ich habe keinen Platz für sie. Bei dir hat sie es schön.«
Sie strahlt.
»Es ist so schön. Jedem gefällt es bei mir.«
Ich küsse sie auf die Schläfe. Sie ist so klein geworden.

»Ich schaue dir nach«, sagt sie an der Tür. »Solange ich dich sehe.«
Ich drehe mich um. Sie winkt.
Ich drehe mich noch einmal um. Ihre Augen sind zusammengezogen.
»Sie ist weg«, höre ich sie murmeln. »Sie ist weg.« Ihr Gesicht bekommt einen leeren Ausdruck.
Ich gehe zurück. Will sie noch einmal küssen.
Ihr Gesicht leuchtet erfreut auf.
»Wie schön«, sagt sie. »Ich habe schon so lange auf dich gewartet. Ich habe gedacht, du kommst nicht mehr.«

 

In der Umarmung des Vergessens V.

 

Vom Verstehen

Am Anfang stand die Ungeduld.
Alle waren ungeduldig mit ihr. Auch ich.
Da weinte sie. Viel. Und auch ich.

Dann kam der Tag. Ich verstand das Verstehen.
Wenn sie mich nicht versteht, dann verstehe auch ich sie nicht.
Könnte ich sie verstehen, würde ich nichts von ihr fordern.
Der Augenblick wäre Geschenk. Für sie. Und auch für mich.

Warum verlangte ich es dann von ihr?
Verstehe ICH denn nicht?

Doch! Seither schon …

 

In der Umarmung des Vergessens IV.

 

Die Flucht hat ein Ende


Immer war sie auf der Flucht. Vor den Prügeln ihres Stiefvaters. Vor dem Leben. Vor dem Muttersein.
In die Krankheit.
Immer floh sie in ihre eigene Welt. Ohne Partner. Ohne Kinder.
Mit Hilfe der Ärzte.
Wohlbefinden gestand sie sich nie zu. Die Krankheit schützte sie vor Verantwortung.
Die Abhängigkeit gab Struktur. Bot Halt.

Jetzt ist sie glücklich. Alles geschieht von selbst. Nichts wird von ihr verlangt.
Auf dem Balkon hat sie ein ruhiges Plätzchen. Erstmals in ihrem Leben hat sie keine Angst.
Auch ihre Suche hat ein Ende. Und ihre Flucht. Endlich ist sie angelangt.

 

In der Umarmung des Vergessens III.

 

Die Suche hat ein Ende

Sie war zu jung, als sie Mutter wurde. Labil, nicht belastbar, immer überfordert, meistens hilflos. Zu jung.
Heute denke ich, auch wenn sie älter gewesen wäre, es hätte nichts geändert. Sie war auf diesem Weg. Mit Kind oder ohne.
Sie war kein Vorbild. War kein Halt. Ich war auf mich allein gestellt.
Später wollte sie sich auf mich stellen. Sie war die Mutter. Sie wollte fordern.
Doch ich ging meinen Weg. Ohne sie. Zusammenkünfte blieben Besuche.

Dann kamen Tage des Erkennens. Ich folgte ihren Spuren. Das war nicht das, was ich für mein Leben wollte.

Ich suchte Liebe. Fand sie nicht bei ihr.
Als ich sie bei mir fand, wusste ich um ihr Defizit. Das war zu wenig. Für mich.

Ich suchte sie. Fand sie in mir. Wollte mich lösen. Von ihr und meinem Defizit.
Ich suchte mich. Fand sie in mir. Erkannte meinen Weg. Zu ihr.
Heut lieb ich sie und dadurch mich. Die Suche hat ein Ende.