Booklet „Flossenbürg 2011“

Aus meinen Blogeinträgen wurde nun ein Booklet gemacht
Erschienen im hs-Literaturverlag. Geplante Veröffentlichung 1.Oktober 2011

flossenbuerg

hsl
70 Seiten
€ 7,50
ISBN 978-3951-99072-9

Klappentext:

Gedenken ist so wichtig.
Aber Gedenken ist nicht das Anprangern von Gräueltaten, das Zeigen von Bildern tiefster Not.
Nur wenn Gedenken zu Liebe führt, uns nicht in Angst und Entsetzen abwenden lässt, ist es gesund. Für den Einzelnen, wie auch für die Gesellschaft.

Wir wollen weder Täter noch Opfer sein.
Doch wer wollen wir sein?
Wenn wir diese Frage beantworten können, stärken wir auch unser Wollen. Dafür müssen wir uns der Vergangenheit liebend zuwenden, denn sie ist unsere Wurzel. Sie spricht zu uns, damit wir aus ihr lernen.
Doch so lange sie keine Liebe in uns auslöst, befinden wir uns nach wie vor in den Krallen des Grauens. Und Grauen kann niemanden davor beschützen, selber Täter oder Opfer zu werden.

Ein Gang durch die Gedenkstätte KZ Flossenbürg im Mai 2011 hat mir einen Ort gezeigt, an dem Gedenken in Liebe möglich ist.

 

Hierzu der Video-Trailer:

flossenbuerg trailer

 

 

Flossenbürg 2011 – I. Ankunft

Flossenbürg 2011 – Versuch eines Spürberichts

Ankunft

Eine Deutschlandrundreise, unterwegs zu vielen lieben Freunden. Erste Anreise durch die Oberpfalz und mein Mann, der an einer Serie „Shoa“ malt, wollte selbstverständlich nicht an Flossenbürg vorbeifahren. Es war ein „kleines“ Lager, ist vielen heute nicht einmal vom Namen her bekannt, idyllisch gelegen, an einem Steinbruch. Mehr als 100.000 Gefangene gingen durch dieses „kleine“ Lager. Die meisten in den Tod. Alle in Verdammnis.

Es ist schon länger her, als ich das letzte Mal in einem ehemaligen Konzentrationslager war und ich war gespannt, wie es diesmal für mich sein würde. Ich fürchtete mich nicht, ich weiß, dass ich die Kraft habe, mich damit auseinanderzusetzen. Was man dort sieht, das weiß man ja im vorhinein und da ich nicht zu den großen Verdrängern gehöre, beschäftige ich mich mit dem Thema immer wieder. Auch habe ich keine Vorfahren, die diesem Horror unmittelbar ausgesetzt waren und auch keine eigenen Erfahrungen mit Verfolgung, Identitätsraub, Hass, Folter und schwerer Erniedrigung. Die Gnade der Geburt …

Doch ich bin ein Mensch, der sein Dasein vom Spüren aus leitet, einer der nicht in Bildern denkt; ich habe kein inneres Auge, ich denke mit dem Bauch. Deshalb wusste ich, ich würde dort weder Gefangene noch Täter herumlaufen „sehen“, der Ort würde von daher keineswegs bedrohlich auf mich herüberkommen. Doch es würden schwere Strömungen durch mein Ich fließen. Ich würde wohl an die Grenzen meines Spürens gelangen.

Das Gebäude selbst war für mich noch keine Herausforderung. Ich stand davor, betrachtete es ruhig, die Spiegelung des strahlendblauen Himmels in den Fenstern und den verhältnismäßig kleinen bogenförmigen Durchgang. Das einzige, das ich spürte, war eine leichte Nervosität, Spannung stieg in mir auf … Dann durch das Tor. Noch immer war ich neugierig, meine Augen nach vorn gerichtet, was mich nun erwarten würde.

Da lag ein Vorhof, doch mein Blick wurde abgelenkt von dem Tor, durch das ich als nächstes gehen musste. Das Lagertor. Heute ein Durchgang mit einer Gedenktafel.

Das Lagertor selbst wurde an einen anderen Platz gebracht. Zuerst war ich irritiert, dann ein wenig erleichtert, ich würde nicht durch dieses Lagertor treten müssen. Es brachte mir Aufschub.

Teil II – Der Appellplatz >>>

 

Flossenbürg 2011 – II. Der Appellplatz

Natürlich kamen als nächstes die Gedanken – ja, ICH habe noch Aufschub … Und – ICH kann auch jederzeit wieder hinausgehen … Und doch fühlte ich, wie die Beklemmung stieg, als ich durch das so entschärfte Tor trat.

Ein großer, mit hellem Kies belegter Platz breitete sich vor mir aus, an beiden Seiten begrenzt von zwei ordentlichen, weißen Gebäuden, der ehemaligen Häftlingsküche auf der linken und dem Waschhaus auf der rechten Seite. In diesem ist die Dauerausstellung „KZ Flossenbuerg 1938-1945“ untergebracht.
Die beiden langgestreckten Häuser gehören zu den ganz wenigen komplett erhaltenen Bauwerken des ehemaligen Konzentrationslagers. Flossenbürg ist eine Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen KZs, das Lager selbst ist schon lange abgerissen.

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Vor dem Ausstellungstrakt lagerte eine große Gruppe junger Amerikaner auf einem Rasenstreifen und wartete auf eine Führung. Der riesige Platz war leer und lag voll in der Sonne. Kein Bröselchen Schatten gab es, jeder einzelne Grashalm auf dem gepflegten Kies wäre zu sehen gewesen. Aber hier wächst kein Gras. Auf dem ehemaligen Appellplatz schämt sich scheinbar sogar das Unkraut.
Alles wirkte adrett und sauber. Weiße Häuser, weißer Kies … Im Hintergrund des Platzes viel Grün. Über der ehemaligen Häftlingsküche erhebt sich ein bewaldeter Hügel. Der dort installierte Wachtturm könnte auch als Aussichtsturm durchgehen. Es sah ein wenig aus, wie der Wirtschaftstrakt eines Schlosses, das man besichtigen könnte, wenn man durch den Park an der Stirnseite spazierte.

Ich ging ein paar Schritte auf die Mitte des Platzes zu. Die Hitze flirrte, mir brach der Schweiß aus. Der kalte Schweiß! Der knirschende Kies schien durch meine Schuhsohlen zu dringen. Als ich auf den Boden sah, zerfiel der weiße Kies zu grauer Asche. Ich blieb stehen.
Asche, wieso Asche?, dachte ich. Blut müsste hier wogen …
Ich machte wieder ein paar Schritte.
Seltsam, dachte ich weiter, wenn man an Appellplätze in Lagern denkt, dann denkt man immer an grimmige Kälte, in der sich die viel zu dünn bekleideten Häftlinge herumschleppen. Immer ist alles grau in grau – vielleicht liegt das auch daran, dass nur Schwarzweißfotos aus dieser Zeit existieren. Doch es musste auch heiße Tage gegeben haben. Sich dieses Geschehen unter dem Blick der strahlenden Sonne vorzustellen, bekam eine zusätzliche Facette des Hohns für mich. Eine Fliege umsummte mich. Ja, die Fliegen! Wie Leichenfledderer mussten sie sich in Schwärmen auf den müden Gestalten niedergelassen haben. Doch wahrscheinlich zählte das für die Menschen hier zu den kleinsten Übeln.

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Ich zog meine Füße aus dem Schlamm, in welchem sie in der Zwischenzeit gefühlt gesunken waren und stakste vorsichtig weiter, weil der Boden unter meinen Füßen keinen Halt bot. Irgendwo hier musste der Galgen gestanden sein. Und die Baracken waren rundherum angeordnet gewesen, soweit ich mich an meine Vorinformation erinnerte. Nichts an diesem Platz deutet mehr darauf hin!
Zur linken Seite hinter der Häftlingsküche befinden sich auf dem ehemaligen Barackenareal schmucke Einfamilienhäuser, auf der rechten Seite große weite Flächen, wo ich von meinem Standort aus erkennen konnte, dass es sich um Fundamente von Gebäuden handelte. Dahin würde ich zum Abschluss meines Rundganges kommen.

Ich schritt auf sattes Grün zu. Und wirklich, als ich den Platz verließ, überrumpelte mich der Anblick einer idyllischen Parkanlage. In der Ferne wieder einer der „Aussichtstürme“. Und wieder erwartete ich, an einem Rand ein Schloss zu entdecken, zu dem diese wunderschöne Parkanlage gehörte.
 

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Die Ambivalenz in meinem Inneren ließ mich taumeln. Mein Erfassungsvermögen war zu gering für diese Diskrepanz. Augenblicke lang hatte ich das Gefühl, ich müsste platzen. Auch hier waren Baracken gewesen, das wusste ich. Von Grün war hier sicher niemals auch nur die Spur. Dieser Platz, der mit Grauen und Leiden getränkt sein musste, lag in einer Lieblichkeit vor mir, die mir im Moment ebenfalls wieder wie blanker Hohn erschien. Lediglich ein paar Steinkreuze mahnten zwischen Vergissmeinnicht …

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<<< Teil I – Ankunft
Teil III – Gedenkstätten >>>

Flossenbürg 2011 – III. Gedenkstätten

Lange blieb ich stehen, versuchte meine Gefühle zu orten. Was spürte ich hier? Was?
Spüren? Oder denken?, war die erste Frage, die ich mir stellen musste.
Die Ambivalenz kam eindeutig aus dem Konglomerat aus beidem. Ich weiß nicht mehr, was ich erwartet hatte, aber mit Sicherheit war es etwas anderes gewesen. Meine Erwartungshaltung biss mich ins Bein. In diesem Augenblick schmerzte die Wunde noch brennend.

Wie immer, und besonders in schmerzhaften Situationen, versuchte ich mich aufs Spüren zu konzentrieren, das Denken so weit wie möglich auszuschalten.

Die grüne Weite in meinen Augen, das laue Lüftchen an dem schattigen Platz, an dem ich stand, luden zum Verweilen ein. Also blieb ich.
Langsam löste sich der Aufruhr in meinem Inneren. Ich spürte, wie das Leben weiterging. Es schien, als spürte ich das Gras wachsen. Die Ewigkeit des Hier-und-Jetzt hatte mich erreicht.
Ich schloss die Augen, um von dem Ausblick nicht länger abgelenkt zu sein.

Aus meinem Bauch stieg Wärme in mein Herz. Demut – an diesem Ort stehen zu können, satt und sicher.
Gedenken war so wichtig, jedoch die Art und Weise des Gedenkens konnte doch ebenso von der anderen Seite aufgerollt werden. Musste man wirklich Gedenken gleichsetzen mit Darstellung von Gräueltaten und bluttriefenden Dokumenten?
Niemals war ich dafür. Auch in den Aktionen, an denen ich mich beteiligte, z.B. für hungernde und missbrauchte Kinder. Nicht die Darstellung ihrer Not brachte Linderung. Sondern das Aufzeigen von Möglichkeiten, Aufforderung zum Schulterschluss, zur Solidarisierung mit jenen, denen das Schicksal anderer Menschen nicht egal war, die bereit waren, genau hinzusehen und dann die Ärmel aufkrempelten.
Die Darstellung der Gewalt, die in immer brutalerer Form gezeigt wird, macht dem Menschen soviel Angst, dass die meisten keine andere Möglichkeit finden, als abzustumpfen, nicht hinzusehen, zu verdrängen, was sie sehen.
Soviele Jahrzehnte nach den furchtbaren Geschehnissen des Holocaust war es an der Zeit zu gedenken, ja, immer wieder! Aber es war auch schon lange der Zeitpunkt gekommen, nicht mehr in Blut und Asche herumzustochern und sie immer wieder aufzuwühlen. Kriminelle Potentiale dadurch weiter zu schüren, die schaurigen Bedürfnisse pathologisch verkrüppelter Seelen immer wieder zu erfüllen, ihnen immer weiter negative Vorbilder zu geben. Ihnen Macht zu geben, weil diese sich an dem Anblick aufgeilen und sich immer wieder daran ergötzen, was bedeutet, dass es beinahe die einzigen sind, die sich das auch wirklich ansehen. Alle anderen verdrängen doch lieber …

Der Mensch muss aus der Opferrolle heraustreten, um kein Opfer zu bleiben.
Dazu gehört es auch, an den Opfern nicht festzuhalten. Dass es diese Opfer gab, muss unbestritten bleiben, dass ihr Leiden unermesslich war, ebenfalls, aber aus ihrem Leid muss Solidarität erwachsen, solches Leid in Zukunft vermeiden zu wollen. Dann hat ihr Leiden Sinn erwirkt.
Wenn wir lediglich an ihrem Leid festhalten, dann werden wir zu Voyeuren! Die sich ihr Leid anschauen, wie durch ein Zeitfenster und dann den Vorhang fallen lassen, um zum Alltag überzugehen.
Nein! Hier war eine Gedenkstätte und kein makabres Museum.

Ich öffnete die Augen wieder. Hier war Möglichkeit zur Meditation, zum wahren Gedenken in Freiheit. Auf dieser Basis konnte man positiv weitergehen.
ICH wollte weitergehen! Und ich folgte dem Weg noch interessierter, weil die unsichere Spannung von mir abgefallen war.

Die steinernen Kreuze wurden nun von halbrunden Gedenksteinen abgelöst.

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Auf der linken Seite des Weges stand die Jüdische Gedenkstätte. Ein – wie so oft leider, wenn Architekten im Spiel sind – seltsam hässliches kleines Gebäude, in welchem man eher die öffentliche Toilette vermutete. Aber davon wollte ich mich nicht irritieren lassen. Lästermaulrülpser meinerseits über architektonische Missbildungen waren bei anderen Objekten angebrachter.

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Die Juden waren in der Hierarchie des Lagers die allerletzten. Ein Beispiel: Es gab Prämienscheine für Minivergünstigungen, wie mal ein zusätzliches Stück Brot oder für einen Besuch im Lagerbordell (wo weibliche Gefangene, die in Außenlagern untergebracht waren, zur Prostitution gezwungen wurden!). Die meisten dieser Scheine wurden willkürlich verteilt, wahrscheinlich um den Kapo noch besser heraushängen lassen zu können. Juden waren grundsätzlich von diesem Prämiensystem ausgeschlossen …

Die Tür zur Gedenkstätte stand offen.

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Der Blick in das Innere ließ mich wieder still werden. So hässlich das Gebäude von außen war, die Schlichtheit und die Anordnung des Innenraums bescherten mir beim Eintreten sofort besinnliche Ruhe. Hier gab es nichts Anklagendes, auch hier keine Darstellung von Gewalt. Auch hier wurde der Besucher einfach auf sich selbst zurückgeführt.

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Das Schattenspiel des Davidsterns im Dachfenster des kleinen Turmes wirkte in diesem Raum wie eine Lichtinstallation.

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Ein kurzes Verweilen an der Mahntafel, dann trat ich in trauriger Ruhe wieder in die Sonne, um meinen Weg fortzusetzen.

<<< Teil I – Ankunft
<<< Teil II – Der Appellplatz
Teil IV – Die Kapelle >>>

 

Flossenbürg 2011 – IV. Die Kapelle

Nur wenige Schritte weiter befindet sich die Kapelle „Jesus im Kerker“. Sie wurde von Überlebenden nach dem Krieg zum christlichen Gedenken an die Gequälten und Ermordeten errichtet.

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Die Kapelle befindet sich auf einem Areal, das sich bereits außerhalb des ehemaligen Lagerzauns befindet. Um das Martyrium der Arbeit im Steinbruch zu symbolisieren, wurde sie aus den Granitsteinen abgerissener Wachtürme und Baracken gebaut. Dies wird ganz deutlich, weil sich unmittelbar daneben noch einer dieser kurios harmlos wirkenden Wachtürme befindet.

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Wer mich kennt, weiß, dass ich in Jesus meinen „göttlichen Gesprächspartner“ gefunden habe.
Deshalb war meine Spannung besonders groß, als ich nun durch das dunkle Tor der Kapelle trat.

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Das Innere lag im Dämmerlicht, das durch wenige bunte Glasfenster hereinkam.
Unter den Fenstern waren Gedenktafeln angebracht. Und auch die Fenster hatten Motive, die die Aufmerksamkeit auf die Opfer verschiedener ethischer Gruppen lenken sollten.

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Mein Blick wurde aber selbstverständlich von der Kreuzigungs-Gruppe angezogen, die sich an der Stirnwand der Kapelle befindet. Die Szene unter dem Kreuz war nicht die übliche. Keine weinenden oder betenden Frauen lagerten vor dem Kreuz, sondern hier wurde ein Steinmetz geprügelt. Ein Kind klammerte sich verzweifelt an seine Mutter. Wie es schien, trug sie ihre Habseligkeiten auf der Schulter. Waren sie auf der Flucht? Oder schleppte die Frau auch Steine?
Langsam ging ich darauf zu, suchte das Gesicht des Herrn.

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Herr, sagte ich, sie haben nichts gelernt. Du bist umsonst diesen brutalen Tod gestorben.
Nein, antwortete Er, ich musste es zumindest versuchen. Und du weißt doch, es geht um die Auferstehung. Das ist das Besondere an meinem Tod, nicht die Quälerei durch die Menschen, die ihre Selbstverantwortung nicht kennen.

Auferstehung!
Genau das war es. Das war die Antwort auf die Diskrepanz, die ich zu Beginn meines Rundganges gefühlt hatte. Einerseits auf schmerzvolle Bilder förmlich zu warten und andererseits keine schmerzlichen Eindrücke erfühlen zu können, weil die Lieblichkeit des Ortes in so starkem Kontrast zu dem stand, das ich mit Erinnerung und Gedenken, im Zusammenhang mit dieser furchtbaren Zeit, verband.

Man musste all diesen Opfern gegenüber die Liebe auferstehen lassen.
Wie Christus haben sie gelitten, um uns etwas aufzuzeigen. Wer diese Botschaft nicht versteht, ist ein Verdammter. Auf ewig!
Aus ihrem Leiden musste Frieden wachsen, um ihrem Leid den einzig möglichen Sinn zu geben. Sie haben – wie Jesus! – dafür gelitten, dass wir an ihrer Geschichte lernen können, wohin unmenschliches Verhalten führt.
Nun ist es an der Zeit, in ihrem Gedenken Frieden zu leben. Ihn aus ihrem Grund wachsen zu lassen!

Es war im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Geschichte gewachsen. Und das war gut. Das hatte nichts mit Vergessen zu tun. Sondern mit Auferstehung.

Immer weiteres Verharren in den grausamen Bildern würde den damaligen Opfern die Liebe entziehen, weil wir uns selbst dadurch zu Opfern machen, zu Opfern unentrinnbaren, weil immer wiederkehrenden Grauens. Angst und aufsteigende Hilflosigkeit rücken bei ihrem Anblick in den Vordergrund, lassen die Nähe zu diesen Menschen nicht mehr zu. Wir distanzieren uns – wenn auch oft unbewusst.
Man kann das sehr leicht beobachten, wie schwer es den Menschen z. B. fällt, Schwerkranke oder Behinderte anzusehen, sie zu berühren – sie zu lieben
Nicht Mitleid brauchen alle diese Menschen. Mit anderen zu leiden, bringt niemandem etwas. Und schon gar nicht aus der Distanz von Jahrzehnten. Mitgefühl ist wichtig. Das Aufnehmen ins Innere in Liebe, nicht in Angst und Abscheu.

Auferstehung!
Jesus zeigte es. Nach all der ihm angetanen Pein stand er auf, um uns den weiteren Weg aufzuzeigen.
Und auch die Menschen in den Konzentrationslagern können wir heute in Liebe auferstehen lassen, damit sie uns den weiteren Weg zeigen. Wenn wir sie nicht dazu verdammen, auf immer und ewig für das Grauen in der Welt als Modelle dazustehen.
Auch sie würden wohl viel lieber als geliebte Erinnerung in unseren Herzen bleiben wollen, oder als Träger, auf deren Schultern eine bessere Welt zustande kam.

An diesem Ort wurde mir klar, dass den damaligen Tätern nicht auch heute noch die Macht eingeräumt werden durfte, diesen Opfern sogar die liebende Erinnerung zu verwehren, und sie auch heute noch nur als ausgemergelte Gestalten durch die Weltgeschichte zu schicken, die Grauen und Schrecken verbreiten.

Schicken wir sie lieber als jene Menschen in die Welt, auf deren Rücken der Frieden wachsen soll und denen wir dafür in dankbarer Liebe gedenken. Auf jeder grünen Wiese, an jedem Blümchen, an dem wir schnuppern können, weil sie für unseren Frieden gestorben sind.

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<<< Teil I – Ankunft
<<< Teil II – Der Appellplatz
<<< Teil III – Gedenkstätten
Teil V – Das Tal des Todes >>>

Ich bedanke mich ausdrücklich und herzlich bei Bernhard Ruehl, der mir seine Fotos von den Kirchenfenstern zur Verfügung stellte, da meine eigenen leider unbrauchbar waren.

Flossenbürg 2011 – V. Das Tal des Todes

Ich brauchte einige Augenblicke, als ich aus dem Dämmerlicht der Kapelle trat, um mich wieder in die Gegenwartsrealität einzufinden. Meine Sinne hatten sich für Erfahrungen geöffnet gehabt, die einige Kraft erforderten. Ich hielt mich am Geländer fest, das vor der Kapelle den Weg begrenzte.
Und blickte – in das „Tal des Todes“ … die extra angelegte eigentliche Gedenkstätte von Flossenbürg.

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Das Areal befindet sich bereits außerhalb des ehemaligen Lagers, was aber nicht heißt, dass dieses Gelände für den Lagerbetrieb nicht in Verwendung war.
Nicht ohne Grund hat dieser Platz seinen Namen.

Von meinem Standpunkt aus wirkte das am rechten hinteren Ende der Anlage befindliche Krematorium klein und unscheinbar. Einzig der schmale hohe Schlot winkte wie ein grausiger Knochenfinger.

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Die Rampe des Todes war von hier aus nur eine Schräge, die von der Mauer herabführte. Doch ich wusste, auf dieser Rampe wurde eine Transportlore zum außerhalb des Lagers liegenden Krematorium geführt. Als der Ofen die vielen Toten nicht mehr fasste, wurden die Leichen einfach im Freien verbrannt. In der Mitte des Platzes mahnte die Aschepyramide daran.

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Ich machte mich auf den Weg, die Stufen hinab. Auf der rechten Seite empfing mich ein Gedenkstein für die jüdischen Opfer. Ein Besucher hatte eine Rose abgelegt.

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Dann trat ich auf den Platz der Nationen, wo Grabplatten als Gedenktafeln für jede Nation angeordnet sind, die hier Opfer zu beklagen hat. Ich bedauerte, mich vorher nicht besser informiert zu haben. Gerne hätte ich ebenfalls Blumen auf den Grabstein meiner Landsleute gelegt.

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So legte ich Worte ab. Dankbare und bewundernde.
Ich möchte mir euch gerne als Vorbild nehmen, sagte ich. Auch für meine, neben euren Erlebnissen so klein wirkenden Situationen. So viel Mut, soviel Kraft und Stärke habt ihr bewiesen. Ihr habt der Welt viel gegeben. Das kann nicht jeder von sich sagen. Ihr habt mir gezeigt, worauf es wirklich im Leben ankommt.
Langsam ging ich weiter, blieb noch bei so manchem Grabstein stehen, um meine Worte zu wiederholen.

Plötzlich wurde der Boden unter meinen Füßen wieder unsicher. Irritiert blieb ich stehen. Ist hier sumpfiges Gelände?, dachte ich.
Doch das schwammige Gefühl verteilte sich von meinem Bauch aus. Er fühlte sich an wie Gelee und nach oben hin wurde die Luft merklich dünner. Ich hielt den Atem an und zog die Schultern ein, meine Schritte wurden schleichend, ich setzte sie konzentriert und mit auf den Boden gerichteten Augen.

Als ich den Blick endlich hob, stand ich an der Vorderseite der Aschepyramide.

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Sofort schloss ich die Augen wieder. Ganz tief senkte ich mich in mein Gefühl hinab.
Jetzt nur nicht davonlaufen, dachte ich immer wieder. Du willst hier durch und nicht daneben vorbei!
Wenigstens so viel Mut musste ich doch aufbringen können. Ich war ein freier Mensch. Und vor meinen Gefühlen ängstigte ich mich schon lange nicht mehr. Dachte ich zumindest bisher…

Doch – Ich stand auf dem Hinrichtungsplatz! Blut stieg in meine Beine, ich spürte es deutlich.

Wieder versuchte ich, meinen Atem zu befreien, der meinen Hals zusammenpresste.
Einatmen, ausatmen – einatmen, ausatmen! Mein eigener Befehl für solche Situationen. In den Bauch einatmen! Und beim Ausamten aufrichten!
Ich stand auf dem Hinrichtungsplatz und machte gezielt meine Atemübungen. Das hatte mir schon in so vielen Situationen geholfen …

Und auch hier. Ich spürte, wie das Blut nicht mehr in den Beinen zu stocken drohte. Mein Körper belebte sich spürbar. Es war MEIN Blut, das wieder durch mich strömte. Das Blut aus dem Boden hatte sich damit vermengt. Und es war nicht der Tod, den ich spürte, sondern das Leben.

Hier ist offensichtlich noch zu wenig Gras gewachsen, dachte ich. Vielleicht konnte an solchen Plätzen auch gar niemals genug Gras wachsen, wo so gezielt entmenschlicht gehandelt wurde.

Ich drehte mich um und stieg mit festen Schritten zum Krematorium hinauf.
Viel Atem benötigte ich, um den Ofen wirklich ansehen zu können.

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Und auch der steinerne Seziertisch forderte mich und meine sensitive Wahrnehmung stark heraus.

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Hier half mir ebenfalls nur meine Besinnung auf das, was ich spürte. Ich musste das Denken ausschalten, dann konnte die Liebe in mir hochsteigen, das wusste ich. Es war nicht leicht, aber es gelang. Langsam senkte sich Traurigkeit über mich und verdrängte die Angst. Und Traurigkeit ist ein warmes Gefühl, das Tränen verwendet, um die Seele auszuspülen.
Ich ließ meine Tränen hier zurück, als Gabe für die Seelen, die in diesen Räumen noch nicht zur Ruhe gekommen waren.

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<<< Teil I – Ankunft
<<< Teil II – Der Appellplatz
<<< Teil III – Gedenkstätten
<<< Teil IV – Die Kapelle
Teil VI – Ende des Rundgangs >>>

Flossenbürg 2011 – VI. Ende des Rundgangs

Hinter dem Krematorium führt eine Stiege zum dort aufgestellten Lagertor, das den Eingang in das Ensemble der Gedenkstätte „Tal des Todes“ markieren soll, die bereits ab 1946 errichtet wurde. Ich war den Weg von der anderen Seite gekommen …
Daneben befindet sich klar erkennbar die ehemalige Rampe für die Transportlore ins Krematorium. Auch sie jetzt eine angenehm grüne Grasnarbe, der Durchlass in der Mauer wurde zugebaut.

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Oben angelangt, warf ich noch einen Blick zurück. Trotz der traurigen Erfahrungen, die ich gemacht hatte, fand ich immer noch, dass dies eine höchst gelungene und sehr harmonische Anlage war, die dem Gedenken Freiraum bot und deshalb einen großen Dienst erwies.

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Weiter führte mein Weg nun vorbei an der Rückseite des idyllischen Ehrenfriedhofs. Wieder blieb ich stehen und versuchte, mich einzufühlen, nun doch wesentlich abgeklärter als zu dem Zeitpunkt, als ich auf der anderen Seite stand. Wieder breitete sich Ruhe in mir aus.
Diesmal war ich nicht mehr überrascht.
Ja, dachte ich, eigentlich klar. Hier ist ein Friedhof!
Ich gehe gerne auf Friedhöfe, der Name sagt es, es sind Stätten, von denen Frieden ausgeht, die Toten haben ihren Platz auf der Welt gefunden, die Erinnerungen werden gepflegt. Und auch hier wurde 5.500 Personen letzte Ruhe in Einzelgräbern gewährt, in diesem traumhaft schönen Park.

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Nun erwartete mich die letzte Station auf dem Rundgang. Die Krankenbaracken und der Arrestbau.
Schon beim Anblick der beiden Pfeiler des ehemaligen Tores bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Doch vielleicht war es ja wieder nur die Erwartungshaltung, denn dahinter war noch keinerlei Bauwerk zu sehen. Eine einzelne Stufe führte auf einen Sockel, der innen begrünt schien.

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Die frei gelegten Fundamente der Krankenbaracken zeigten, wie wenig Raum für die Kranken bereit stand, was die Tatsache noch einmal erhärtete, dass in diesen Baracken niemand gepflegt worden war, sondern hier gezielt getötet wurde, sei es durch absichtliche Vernachlässigung, Unterernährung, aber auch Giftspritzen sind überliefert.

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Da ich nicht darauf vorbereitet gewesen war, hier nur Fundamente vorzufinden, war ich ein wenig durch diese Tatsache abgelenkt, doch das Grummeln in meinen Eingeweiden wurde dennoch ein wenig stärker.

An der Rückseite erhob sich ein kleines Gebäude. So hübsch weiß geputzt, freistehend und mit der geöffneten Mauer sah es ebenfalls beinahe harmlos aus.

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Doch beim Näherkommen verstärkte sich seine Ausstrahlung enorm. Das bisschen Gras auf dem Hof konnte die Folterungen und Hinrichtungen auf diesem Platz noch nicht absorbieren …

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Ich richtete mich wieder an meinem Atem auf und betrat den Bau. Im Inneren gab es nicht viel zu sehen. Die Zwischenmauern wurden abgerissen, nur ihre Fundamente waren auf dem Boden erkennbar. Die Sonne schien beim Fenster herein und das Grauen war nicht sichtbar. Aber für mich eindeutig noch immer spürbar. Mir wurde kalt und kälter …

Auf dem Hof in der direkten Sonne wurde es keineswegs besser. Der auftretende Schweiß legte sich wie eine eisige Haut über mich.

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Vor der Gedenktafel für Dietrich Bonhoeffer und die „prominenten“ Gefangenen, die nicht in den „normalen“ Häftlingsbaracken untergebracht waren, sondern hier und dann noch knapp vor Kriegsende hingerichtet wurden, hielt ich wieder auf bewährte Art Zwiesprache.
Plötzlich merkte ich, dass ich diesmal mit mir selber sprach.

Ich will darüber schreiben, sagte ich, vielleicht kann ich damit ein paar Menschen erreichen.
Und wenn es nur einer ist … wenn jeder, der sich damit auseinandersetzt, auch nur einen einzigen ermuntern kann, einem damit weiterhelfen kann … würde die Welt bald anders aussehen …
Das ist etwas, das ich für euch tun kann, sprach ich nun doch wieder zu den Seelen dieser Stätte. Ich will versuchen, das Grauen aus eurem Andenken zu nehmen, den Leuten aufzuzeigen, wie man dieses Andenken in Liebe umwandeln kann, ihren Mut dafür zu stärken.
Ich lauschte in mich. Die Antwort lautete „Das gibt jedem Versuch Sinn!“ und in der Gewissheit, das mir einzig Mögliche tun zu wollen, ging ich wieder zurück.

Als ich von dieser Seite durch das Tor trat, fiel mein Blick auf die Siedlung, die gegenüber den Hang emporstieg.

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An dieser Stelle waren früher die Baracken gewesen. Ein leises Schaudern erfasste mich. Ich würde auf diesem Hang nicht wohnen wollen, das wusste ich.

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Und doch – auch hier galt: Die Vergangenheit musste endlich Ruhe finden können. Es musste neues Leben entstehen können. Und gaben nicht gerade diese Wohnhäuser ein starkes Zeichen dafür? Verbündeten sich die darin Wohnenden nicht auf eine selbstverständliche Weise mit den Menschen, die früher hier gewohnt hatten? Wie schrieb ich vorher schon? Man musste die Menschen, die hier lebten und starben, endlich als Menschen in Erinnerung behalten und nicht mehr als Opfer. Gehörte zu diesem Prozess nicht ebenfalls dazu, frühere Wohnstätten neu zu besiedeln?
Es gab wohl auch nicht viele Plätze auf der Welt, an denen noch kein Blut geflossen war. Da könnte man nirgends wohnen.
Und dennoch – für mich war es mir im Augenblick unvorstellbar.

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Der Platz vor dem Arrestbau, auf dem früher ebenfalls Häftlingsbaracken standen, war wiederum eine große Grünfläche, die mir erneut die Weite bot, um meine Gedanken entlassen zu können. In ihrer Mitte befand sich ein Gedenkstein.

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Seine Inschrift sprach auch mir aus dem Herzen …

*Ende des Rundgangs*

<<< Teil I – Ankunft
<<< Teil II – Der Appellplatz
<<< Teil III – Gedenkstätten
<<< Teil IV – Die Kapelle
<<< Teil V – Das Tal des Todes
Teil VII – Die Ausstellung >>>

Ich bedanke mich bei der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg für die Bereitstellung der historischen Fotos.