Ja, darf die Natascha denn das?

 
Eigentlich wollte ich mich nun eher frühlingshaften Themen, und am liebsten Gedichten, zuwenden. Aber nun lässt mich doch wieder etwas gedanklich nicht los. Und es passt ja auch noch nahtlos zu meiner Artikelserie über die Verhetzung. An diesem prominenten Fall lässt sich meine Darstellung wieder perfekt bestätigen.

Es geht um Natascha Kampusch.

Ich bin nun absolut keine Insiderin, was ihre Geschichte betrifft. Ich habe mich immer nur kurz und lediglich informativ damit beschäftigt. Mich gefreut, als sie entflohen ist und versucht, mit dem Grauen, das allein schon die Vorstellung ihres Leidensweges in mir auslöste, zurecht zu kommen.
Da ich, wie schon öfter mal erwähnt, mich meinen Ängsten immer zu stellen versuche, hat mich das logischerweise ganz nah an ihre Seite gebracht.
Ich muss diese Frau nicht aus persönlichen Verdrängungsgründen auf- oder abwerten.

Um die „Wahrheit“ ihrer Geschichte zu erfahren, war ich nie neugierig genug. Dafür habe ich viel zu viel Respekt vor den Intimbereichen anderer Menschen.
Mich interessierte immer am meisten ihre Persönlichkeit.
Und diese ist wahrlich unglaublich. Unglaublich bewundernswert, nur dass hier nicht von Anfang an schon ein Missverständnis entsteht.

Ich möchte gar nicht darauf eingehen, dass ihr die Kindheit gestohlen wurde. So vielen Kindern wird die Kindheit gestohlen. Der Zeitgeistnachwuchs hat auch keine.

Aber was sie daraus gemacht hat! Da könnten sich die Verwöhnungsopfer unserer Gesellschaft mehrere Scheiben abschneiden.

Ein Mensch, der 8 Jahre in dieser Form der Gefangenschaft verbringt, und zwar jene Jahre, die ihn wohl am meisten prägen, ein Mädchen, das in diesen Jahren zur Frau wird, das auf diese Weise dann aus dieser Zeit heraustritt, ringt mir unbeschreibliche Bewunderung ab.

Ich habe einen Satz gelesen, den die Darstellerin des Kindes in dem Film „3096 Tage“ gesagt haben soll: „Sie hat das alles überlebt. Vielleicht werde ich auch mal entführt. Wenn es passiert möchte ich wissen, wie man es schafft, zu überleben“.
Ich bezweifle ein wenig, ob der wirklich von dem Kind stammt, aber ich als Erwachsene kann nur sagen: Ja, das möchte ich bitte auch!

Ich selber bin jemand, der sich gerne dazu entscheidet, am Leben zu reifen, egal was passiert. Aus dem Hier und Jetzt den nächsten Schritt nach vorne setzen zu wollen.
Aber selbstverständlich weiß ich ganz genau, dass mir das nicht immer gelingt. Und dass mir dabei oft sogar schon kleinste Ängstlein im Wege stehen.

Doch ich bin durch einen jahrzehntelangen Reifeprozess an diesen Punkt gelangt.
Und nun das Kind! Und wie aus der Geschichte ebenfalls ans Licht kommt, ein Kind, das seine Stärke nicht aus dem Elternhaus mitbekommen hat.
Oder vielleicht doch? Hat sich gerade durch die schwierige Heimsituation bereits der Halt in sich selber für das Mädchen herangebildet gehabt?

Wie auch immer. Eines steht fest: Natascha Kampusch verhielt und verhält sich absolut anders, als wir es von Opfern kennen. Und so vermessen es klingt – ich kenne das von mir: Gezeigte Stärke macht Angst. Und fordert den Angriff heraus.

Und so geschah es auch hier und geschieht es noch immer. Und nun nach dem Erscheinen des Filmes noch einmal verstärkt.

Darf denn ein Opfer so etwas? Darf denn eine junge Frau Geld an ihrem leidensvollen Schicksal verdienen?
Das sind die moralinsauren Fragen, die in den Medien und Diskussionen derzeit im Vordergrund stehen.

Das muss man sich wirklich einmal auf der Zunge oder sonstwo zergehen lassen. DAS ist es, wozu sich eine Mehrheit an Schreibern und Lesern anprangernd zu äußern wagt.

Menschen, die ihre Pubertät in zeitgeistigen Scharmützeln abwickeln, richten über eine Frau, die unter härtesten und brutalsten Bedingungen heranwachsen musste.
Es sind die gleichen, die sich über Millionen von Vergewaltigungs- und Kriegsopfern hinwegsetzen, beim täglichen Konsum ihrer Medienkost.
Verdienen dürften daran nur die Schreibtischtäter und Kunstvorgaukler. Damit sie nur ja wieder weiter die ärgsten Gruselkick-Geschichten verbreiten können.

Die neurotischen Auswüchse dieser Zeitgeistpubertierer werden in ihrer beinahe Allgemeingültigkeit als Maßstab für die doch zwangsweise auftretenden neurotischen Auswüchse einer Pubertät in Gefangenschaft angesetzt!

Dass diese Frau noch lange nicht über den psychischen Berg ist, davon darf ausgegangen werden. Dass sie sich aber auf eine höchst starke und charaktervolle Weise der weiteren Ausbeutung entgegenstellt, ist meines Erachtens nach, ihre einzige Chance, überhaupt jemals darüber hinwegzukommen!

Und genau hier tummeln sich die Schreibtischtäter und Vermarktungskünstler.
Und auch hier paradieren sie auf den diversen Catwalks in ihren Aufdeck- und Aufrüttelmäntelchen.
Beklatscht von der Front Row aus Voyeuren, Neidern und Zeigefingerhebern.

Nicht Natascha Kampusch hat ihre Geschichte an die Öffentlichkeit getragen. Sie wurde aus ihr herausgehetzt.
Einer Jugendlichen, die ihre „Erziehung“ unter furchtbarsten Bedingungen erfuhr, wurde nach ihrer Flucht kein Millimeter Intimität gelassen. Von ihr wurde andererseits aber erwartet, dass sie abgeklärt und „richtig“ reagierte.
Jedes kleinste Möchtegernsternchen fällt beim Anblick eines 100-Euro-Scheines, mit dem ein Fotograf winkt, nackig in dessen Arme und wuchs aber in „normalen“ Verhältnissen auf.

Natascha Kampusch war klug genug, den Spieß einfach umzudrehen. Mit der psychischen Belastung ihrer Situation und ihrer Verfolgung muss sie sowieso umgehen. Es wird ihr noch lange keine Ruhe zugestanden werden.
Dass sie auf sich selbst angewiesen ist, das hat sie unter härtesten Bedingungen gelernt. Diese Frau vertraut auf keinen Schutz durch die Gemeinschaft.
Aber sie hat auch daraus gelernt, sich nicht noch weiter zum Opfer machen zu lassen.
Ihre Opferzeit dauerte wahrlich schon lang genug für zig Menschenleben, nicht nur für eines.

Ich weiß nicht, ob und wieviel Geld sie an ihrer Geschichte verdient. Ich vergönne ihr jedenfalls jeden armseligen Euro! Nein, jede armselige Million, so es in diese Einnahmens-Dimensionen geht. Sie hat sich ihr Geld so hart verdient, wie nur selten jemand.

Was den Film angeht und auch sämtliche Randprodukte, die zum Fall Kampusch in die Vermarktungsmaschinerie gelangten, verweise ich auf meine Serie Die Schreibtischtäter.
Hier wird einfach Böses in die Welt transportiert. Ohne jegliche humanistische Grundlage.
Und – es wird lediglich das Opfer gehetzt!

Der Film … Ohne ihn gesehen zu haben, unterschreibe ich den Satz eines Kritikers: Ein weiterer Film, den keiner braucht.
Berührend war für mich daran lediglich, als Natascha Kampusch dazu sagte:
„Ich habe mich dazu entschlossen, weil so viele Menschen sagten, das war ja alles gar nicht so arg. Die werden es nun sehen und ihre Meinung ändern.“

Liebe Natascha, wie gut ich deine Sehnsucht verstehen kann! Doch leider ist deine Klugheit in diesem Fall dem verständlich frommen Wunsch aufgesessen.
Denn leider wird gerade das Gegenteil der Fall sein. Die Angriffsfläche hat sich noch einmal vergrößert. Es wurde bereits zum nächsten Halali geblasen.

Aber du schaffst es sicher auch, mit dieser enttäuschenden Erkenntnis umgehen zu können. Ich weiß es und vor allem, ICH wünsche es dir!

© evelyne w.