Nimbus

 
Nenne mich irgendwie. Doch nenne mich. Sag nicht einfach du. Oder Sie. Oder sie.
Ich will nicht im neutralen Schatten der Menge mich an Mauern ranken. Ich will blühen als das, was nur ich blühen kann. Im Ich-Rot und im Ich-Blau will ich mich auf dem Ich-Grün meines Stängels entfalten und von dir erkannt werden. Nicht rot wie eine Rose und nicht blau wie ein Vergissmeinnicht. Vergiss mich nicht im Anblick meiner Farben. Nenne sie irgendwie. Doch nenne mich.

© evelyne w.

 

9.11.1989

 
lasst uns gehen
wohin wir wollen
dann kommen wir
auch gerne wieder

nur in der enge
des gefängnisses
sieht die freiheit
wie ein vogel aus

ist der mensch frei
sucht wände er
zum anlehnen
und türen
die er schließen kann

ein vogelhaus
ist kein nest

 

© evelyne w.

maria unter dem kreuz

 
wo gingst du hin
sohn des herrn
geboren mir
aus unbeflecktem schoß

doch übersät
vom schandmal
unseligen menschentums

vertränt hebt sich
der weg des schmerzes
aus dem auge

die schmach
grinst hämisch
mit dem schlangenkopf

es gibt
nur eine hoffnung:

auferstehung
in deinem unbeflecktem geist

 

© evelyne w.

 

 

wortflug

 
ich höre sie
all die worte
die du jetzt
nicht sagst

ich sehe sie

aufsteigen wie störche
mit schwerem flügelschlag
beginnen
um in den höhen
elegant zu gleiten

in ihrem nest
brüten und füttern
um großzuziehen
gedichte deines lebens

 

© evelyne w.