Ich brauchte einige Augenblicke, als ich aus dem Dämmerlicht der Kapelle trat, um mich wieder in die Gegenwartsrealität einzufinden. Meine Sinne hatten sich für Erfahrungen geöffnet gehabt, die einige Kraft erforderten. Ich hielt mich am Geländer fest, das vor der Kapelle den Weg begrenzte.
Und blickte – in das „Tal des Todes“ … die extra angelegte eigentliche Gedenkstätte von Flossenbürg.
Das Areal befindet sich bereits außerhalb des ehemaligen Lagers, was aber nicht heißt, dass dieses Gelände für den Lagerbetrieb nicht in Verwendung war.
Nicht ohne Grund hat dieser Platz seinen Namen.
Von meinem Standpunkt aus wirkte das am rechten hinteren Ende der Anlage befindliche Krematorium klein und unscheinbar. Einzig der schmale hohe Schlot winkte wie ein grausiger Knochenfinger.
Die Rampe des Todes war von hier aus nur eine Schräge, die von der Mauer herabführte. Doch ich wusste, auf dieser Rampe wurde eine Transportlore zum außerhalb des Lagers liegenden Krematorium geführt. Als der Ofen die vielen Toten nicht mehr fasste, wurden die Leichen einfach im Freien verbrannt. In der Mitte des Platzes mahnte die Aschepyramide daran.
Ich machte mich auf den Weg, die Stufen hinab. Auf der rechten Seite empfing mich ein Gedenkstein für die jüdischen Opfer. Ein Besucher hatte eine Rose abgelegt.
Dann trat ich auf den Platz der Nationen, wo Grabplatten als Gedenktafeln für jede Nation angeordnet sind, die hier Opfer zu beklagen hat. Ich bedauerte, mich vorher nicht besser informiert zu haben. Gerne hätte ich ebenfalls Blumen auf den Grabstein meiner Landsleute gelegt.
So legte ich Worte ab. Dankbare und bewundernde.
Ich möchte mir euch gerne als Vorbild nehmen, sagte ich. Auch für meine, neben euren Erlebnissen so klein wirkenden Situationen. So viel Mut, soviel Kraft und Stärke habt ihr bewiesen. Ihr habt der Welt viel gegeben. Das kann nicht jeder von sich sagen. Ihr habt mir gezeigt, worauf es wirklich im Leben ankommt.
Langsam ging ich weiter, blieb noch bei so manchem Grabstein stehen, um meine Worte zu wiederholen.
Plötzlich wurde der Boden unter meinen Füßen wieder unsicher. Irritiert blieb ich stehen. Ist hier sumpfiges Gelände?, dachte ich.
Doch das schwammige Gefühl verteilte sich von meinem Bauch aus. Er fühlte sich an wie Gelee und nach oben hin wurde die Luft merklich dünner. Ich hielt den Atem an und zog die Schultern ein, meine Schritte wurden schleichend, ich setzte sie konzentriert und mit auf den Boden gerichteten Augen.
Als ich den Blick endlich hob, stand ich an der Vorderseite der Aschepyramide.
Sofort schloss ich die Augen wieder. Ganz tief senkte ich mich in mein Gefühl hinab.
Jetzt nur nicht davonlaufen, dachte ich immer wieder. Du willst hier durch und nicht daneben vorbei!
Wenigstens so viel Mut musste ich doch aufbringen können. Ich war ein freier Mensch. Und vor meinen Gefühlen ängstigte ich mich schon lange nicht mehr. Dachte ich zumindest bisher…
Doch – Ich stand auf dem Hinrichtungsplatz! Blut stieg in meine Beine, ich spürte es deutlich.
Wieder versuchte ich, meinen Atem zu befreien, der meinen Hals zusammenpresste.
Einatmen, ausatmen – einatmen, ausatmen! Mein eigener Befehl für solche Situationen. In den Bauch einatmen! Und beim Ausamten aufrichten!
Ich stand auf dem Hinrichtungsplatz und machte gezielt meine Atemübungen. Das hatte mir schon in so vielen Situationen geholfen …
Und auch hier. Ich spürte, wie das Blut nicht mehr in den Beinen zu stocken drohte. Mein Körper belebte sich spürbar. Es war MEIN Blut, das wieder durch mich strömte. Das Blut aus dem Boden hatte sich damit vermengt. Und es war nicht der Tod, den ich spürte, sondern das Leben.
Hier ist offensichtlich noch zu wenig Gras gewachsen, dachte ich. Vielleicht konnte an solchen Plätzen auch gar niemals genug Gras wachsen, wo so gezielt entmenschlicht gehandelt wurde.
Ich drehte mich um und stieg mit festen Schritten zum Krematorium hinauf.
Viel Atem benötigte ich, um den Ofen wirklich ansehen zu können.
Und auch der steinerne Seziertisch forderte mich und meine sensitive Wahrnehmung stark heraus.
Hier half mir ebenfalls nur meine Besinnung auf das, was ich spürte. Ich musste das Denken ausschalten, dann konnte die Liebe in mir hochsteigen, das wusste ich. Es war nicht leicht, aber es gelang. Langsam senkte sich Traurigkeit über mich und verdrängte die Angst. Und Traurigkeit ist ein warmes Gefühl, das Tränen verwendet, um die Seele auszuspülen.
Ich ließ meine Tränen hier zurück, als Gabe für die Seelen, die in diesen Räumen noch nicht zur Ruhe gekommen waren.
<<< Teil I – Ankunft
<<< Teil II – Der Appellplatz
<<< Teil III – Gedenkstätten
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Teil VI – Ende des Rundgangs >>>