In der Umarmung des Vergessens XV.

 

Die einzige Antwort

Ich fühle mich. Hilflos. Ich kann sie nicht beaufsichtigen. Nicht einsperren.
Nicht beschützen. Vor sich selbst. Vor all dem, das sie nicht mehr weiß.
Die Hilflosigkeit zerrt. An meiner Geduld. Mit ihr.

Sie beugt sich nicht mehr. Geht ihren Weg.
Unbeeindruckt. Vom Gebot. Von jeder Bitte. Unbeeindruckt von Gefahr.

Warum? Hört sie denn nicht? Sieht sie denn nicht? Tut sie denn nicht?
Doch Warum ist keine Frage. Die man an diese Krankheit stellen kann.
Und die einzige Antwort ist: Die Umarmung des Vergessens.

 

Booklet „Flossenbürg 2011“

Aus meinen Blogeinträgen wurde nun ein Booklet gemacht
Erschienen im hs-Literaturverlag. Geplante Veröffentlichung 1.Oktober 2011

flossenbuerg

hsl
70 Seiten
€ 7,50
ISBN 978-3951-99072-9

Klappentext:

Gedenken ist so wichtig.
Aber Gedenken ist nicht das Anprangern von Gräueltaten, das Zeigen von Bildern tiefster Not.
Nur wenn Gedenken zu Liebe führt, uns nicht in Angst und Entsetzen abwenden lässt, ist es gesund. Für den Einzelnen, wie auch für die Gesellschaft.

Wir wollen weder Täter noch Opfer sein.
Doch wer wollen wir sein?
Wenn wir diese Frage beantworten können, stärken wir auch unser Wollen. Dafür müssen wir uns der Vergangenheit liebend zuwenden, denn sie ist unsere Wurzel. Sie spricht zu uns, damit wir aus ihr lernen.
Doch so lange sie keine Liebe in uns auslöst, befinden wir uns nach wie vor in den Krallen des Grauens. Und Grauen kann niemanden davor beschützen, selber Täter oder Opfer zu werden.

Ein Gang durch die Gedenkstätte KZ Flossenbürg im Mai 2011 hat mir einen Ort gezeigt, an dem Gedenken in Liebe möglich ist.

 

Hierzu der Video-Trailer:

flossenbuerg trailer

 

 

In der Umarmung des Vergessens XIII.

 

Der Besuch IV.

Heute geht es ihr nicht gut. Ich sehe es sofort. Das Gesicht ist teigig. Ihre Augen sind rot. Die Bewegungen fahrig.
Sie sitzt auf dem Bett. Ich muss ganz nahe kommen. Dass sie mich erkennt. Sie sieht besonders schlecht. Wenn es ihr nicht gut geht.
Ich setze mich neben sie. Lege den Arm um ihre Schulter.

»Geht es dir nicht gut?«
Sie sieht zu Boden. Das Kopfschütteln ist mehr ein Zittern.
»Ist etwas geschehen?«
»Ich habe nicht geschlafen. Keine Minute.« Ihre Stimme klingt weinerlich. Hoch. Kindlich.
»Oje, warum denn nicht?«
»Sie waren alle da.«
»Wer war da? Die Schwestern?«
»Sie war auch da.«
»Die Ärztin?«
»Sie war auch da.«
»Gut, dass du nicht allein warst.«
Sie lächelt. »Da kommen sie alle. Sie war auch da.«
Ich nehme ihre Hände. Streichle sie. Auch ihren Oberarm. Ihre Wange.
»Das kennst du doch schon. Jetzt wird es wieder besser.«
Sie lehnt sich an mich. Nickt.
»Du bist auch da.«

 

In der Umarmung des Vergessens XII.

 

Von der Kraft

Es war nicht leicht. Nein. Ganz und gar nicht.
Es war nicht leicht. Ihr Weggleiten zu sehen. Es wahrhaben zu wollen. Zu können.
Sie war die Mutter. Ist plötzlich Kind.
Die Angst fraß sich in meinen Schoß. Der sie niemals geboren.
Die Angst fraß mich. Die ich aus ihrem Schoß geboren.
Ein Spiegel schob sich vor ihr Gesicht. Vor mein Gesicht.
Schon einmal ging ich ihren Weg. Beinah zu lang.

Es war nicht leicht. Nein. Ganz und gar nicht.
Doch endlich sah ich. Ihr Gesicht. Nicht mehr den Spiegel.
Sah den Weg. Zu ihr.
Von ihr.
Zu mir.

 

In der Umarmung des Vergessens XI.

 

Auch ohne Worte

Sie mag nicht essen. Will unbedingt, dass ich ihre Mahlzeit esse. Den Tee schüttet sie aus.
Nur Kekse. Will sie immer.

»Iss!«, drängt sie mich.
»Nein, ich esse erst später.«
Ihre Augen werden unruhig. Bleiben auf dem Papierkorb hängen. Sie schüttelt den Kopf.
»Dort kann ich nicht.«
»Dann lass es stehen. Die Schwester nimmt es wieder mit.«
»Iss du es.«
»Nein danke. Es ist dein Essen.«
Sie hebt den Teller auf. Stellt ihn wieder hin. Schüttelt erneut den Kopf.
»Dort kann ich nicht.«
»Schmeckt es dir nicht? Soll ich dir etwas mitbringen?«
Sie zuckt mit einer Achsel.
»Vielleicht … ein …« In ihrem Gesicht arbeitet es. »Ein … ein … du weißt schon …«
Ich denke nach, was sie immer gerne aß.
»Ein Schnitzel?«
Sie schaut zweifelnd drein.
»Einen gefüllten Paprika?«
Sie beißt sich auf die Lippen.
»Krautfleckerln?«
Sie sieht zu Boden.
»Na so … die …« Sie macht eine rollende Handbewegung.
»Fleisch?«
Kopfschütteln.
»Gemüse?«
Kopfschütteln.
»Du hast sie auch immer wollen. Ich habe sie für dich gemacht.«
Sie kochte gut. Wenn sie kochte. Wenn sie konnte. Es gab vieles. Das ich gerne aß. Wenn sie kochte. Wenn sie konnte.
»Nudeln, oder Reis oder so?«
»So ähnlich.« Ihre Hand rollt wieder durch die Luft.
»Was Süßes?«
Ihr Nicken wird deutlich.
»Palatschinken?«
»Ja!«, ruft sie. Klatscht in die Hände. Hüpft im Sitzen. Wie ein Kind.

Wieder geschafft …

 

In der Umarmung des Vergessens IX.

 

Theaterleben

Sie lebte auf einer Bühne. Spielte ein Stück. Das niemand verstand.
Ich brauchte Jahre. Es zu verstehen. Jahrzehnte.
Nach vorne strahlend. Immer freundlich. Perfekte Mutter. Geliebte Frau. Schönes Heim.
In den Kulissen wartete die Depression. Band ihr die Arme. Auf den Rücken.
Der Text kam aus dem Souffleurkasten. Für die Mutter. Für die Frau.
Auf dem Schnürboden hing schon das Vergessen. Auch das Vergessensein.

Der Vorhang wurde immer schwerer. Und doch. Tägliches Öffnen. Vor dem falschen Publikum.
Kein Applaus von mir. Nur von der Claque. Die in der ersten Reihe saß. Und von den Regisseuren in den weißen Mänteln.

Das neue Stück hieß Mitleid. Mit allem. Mit jedem. Nur nicht mit mir.
In den Pausen. Suche nach Botschaften. Von Hiob. Von Allen. Von Jedem. Nur nicht von mir.
Der Dialog wurde gestrichen. Der Monolog wurde geweint.

Das letzte Stück:
Perfekte Mutter. Noch immer. Das Spiel: Viele Besuche. Das gibt Applaus. Von ihr. Für sie.
Und in der Pause. Ein Eis. Von mir. Für sie.