In der Umarmung des Alters II.

 

getarnt

Ich färbe mein Haar. Herbstrot. Lodernd. Orange. Ich werde es noch mit neunzig tun. Es ist mein Leuchtturm. Werde sofort gesehen. Und meine Tarnkappe. Bedecke ich es, bin ich unsichtbar.
Es ist angenehm. Sich selbst anknipsen zu können. In Gesellschaft. Nur mehr gesehen zu werden, wenn man es will.
Niemand stellt meiner Jugend nach. Meinem Arsch. Meinem Busen.
Und sieht nicht mich. Und hört nicht mich. Und liebt nicht mich. Ist nur verliebt. In die Jugend.

Ich gebe was ich tue. Ich gebe was ich bin. Ich gebe meine Jugend. Mir. Und dem der sie erkennt. Hört er meine Worte. Sieht er in meine Augen. Sucht nicht mein Haar.

 

In der Umarmung des Alters I.

 

Wie hoch noch?

Älter wollte ich sein. Immer schon. Die meisten Menschen wollen das. Kinder sowieso. Auch die Jugendlichen. Erwachsene verschieben ihr Leben auf später.
Bei vielen verliert sich der Wunsch des Älterwerdens. Irgendwann. An seine Stelle tritt Ambivalenz. Später die Angst. Nicht so bei mir. Ich möchte immer noch älter werden. Und bin doch für die meisten schon alt.
Die Höhe, die ich nun erreicht habe, gab es vorher nie. Zu viel Ballast beschwerte meine Tage. Jetzt ist das Fliegen leichter.
Die Spannung steigt. Wie hoch werde ich schwingen?

 

die liebe. muss sie sein.


rasend. muss sie sein
die liebe. rasend.
sie muss dir die haut
herunter reißen und
das fleisch verbrennen
dir den atem schnüren
und als schrei von deinen
lippen bluten.

still. muss sie sein
die liebe. ganz still.
sie muss dir balsam auf alle
deine wunden legen und die
hitze der lust zur wärme kühlen
dir den atem des lebens einhauchen
und das blut von deinen
lippen küssen.

die liebe. muss sie sein
die liebe. die liebe.

© evelyne w.

die liebe - audio

 

In der Umarmung des Vergessens XVI.

 

Wie wird das sein

Wie wird das sein. Denke ich. Wie wird das sein. Wenn sie mich nicht mehr erkennt. Werde ich auch dann noch einen Draht zu ihr finden. Sie vergisst so viele Namen. Manchmal auch meinen.
Gestern hat sie ihren Sohn nicht erkannt. Nur kurz. Und doch. Sie weiß es. Das macht ihr Angst. Ich spüre sie. Ganz deutlich.
Wie wird das sein. Wenn sie mich nicht mehr erkennt. Wie wird das sein. Ich spüre meine Angst. Ganz deutlich.

(Schluss)

 

In der Umarmung des Vergessens XV.

 

Die einzige Antwort

Ich fühle mich. Hilflos. Ich kann sie nicht beaufsichtigen. Nicht einsperren.
Nicht beschützen. Vor sich selbst. Vor all dem, das sie nicht mehr weiß.
Die Hilflosigkeit zerrt. An meiner Geduld. Mit ihr.

Sie beugt sich nicht mehr. Geht ihren Weg.
Unbeeindruckt. Vom Gebot. Von jeder Bitte. Unbeeindruckt von Gefahr.

Warum? Hört sie denn nicht? Sieht sie denn nicht? Tut sie denn nicht?
Doch Warum ist keine Frage. Die man an diese Krankheit stellen kann.
Und die einzige Antwort ist: Die Umarmung des Vergessens.

 

Booklet „Flossenbürg 2011“

Aus meinen Blogeinträgen wurde nun ein Booklet gemacht
Erschienen im hs-Literaturverlag. Geplante Veröffentlichung 1.Oktober 2011

flossenbuerg

hsl
70 Seiten
€ 7,50
ISBN 978-3951-99072-9

Klappentext:

Gedenken ist so wichtig.
Aber Gedenken ist nicht das Anprangern von Gräueltaten, das Zeigen von Bildern tiefster Not.
Nur wenn Gedenken zu Liebe führt, uns nicht in Angst und Entsetzen abwenden lässt, ist es gesund. Für den Einzelnen, wie auch für die Gesellschaft.

Wir wollen weder Täter noch Opfer sein.
Doch wer wollen wir sein?
Wenn wir diese Frage beantworten können, stärken wir auch unser Wollen. Dafür müssen wir uns der Vergangenheit liebend zuwenden, denn sie ist unsere Wurzel. Sie spricht zu uns, damit wir aus ihr lernen.
Doch so lange sie keine Liebe in uns auslöst, befinden wir uns nach wie vor in den Krallen des Grauens. Und Grauen kann niemanden davor beschützen, selber Täter oder Opfer zu werden.

Ein Gang durch die Gedenkstätte KZ Flossenbürg im Mai 2011 hat mir einen Ort gezeigt, an dem Gedenken in Liebe möglich ist.

 

Hierzu der Video-Trailer:

flossenbuerg trailer

 

 

Der Liebeszauber des M. Ladoucette

 

„Der Liebeszauber des Monsieur Ladoucette von Julia Stuart

Ein Buch, das für mich zu den entzückendsten seit Jahren gehört.
Ich mag leichte Kost, die aber nicht seicht ist. Dieses Buch kann diesen Spagat perfekt.
Die Handlung ist eher romantisch dünn, aber das Wie, einfach höchst unterhaltsam.
Der Stil der Autorin geht ins leicht Skurrile, außerdem glaubt man durch ein Zeitfenster zu sehen. In dem kleinen Ort scheint die Zeit vor einigen Jahrzehnten stehen geblieben zu sein.

Die Handlung:
Monsieur Ladoucette betreibt im 33-Seelen-Dorf Amour-sur-Belle seinen Friseurladen mit Leidenschaft. Doch dann kommt Konkurrenz, er muss den Laden schließen. Er wird Heiratsvermittler, obwohl er in Liebesdingen eher unerfahren ist, sich der Erfüllung seiner großen Liebe vor 26 Jahren durch Nichtbeantwortung eines Briefes selbst in den Weg gestellt hat.
Wie nun die vielen alleinstehenden Personen dieses Ortes, die einander eher nicht grün sind, miteinander verwoben werden, ist einfach köstlich.
Und wie die Eifersucht Monsieurs bei der Vermittlung seiner Jugendliebe ihn letztendlich doch über seinen eigenen Schatten springen lässt, herzerwärmend amüsant.

Der Stil von Julia Stuart lebt einerseits von immer wiederkehrenden Floskeln, die aber der Geschichte und dem Leben in diesem Ort im französischen Perigord Vert seine verlangsamende Skurrilität geben. Andererseits bietet die detaillierten Beschreibung von Landschaft, Ess- und Lebenskultur sinnliches Vergnügen, man taucht förmlich in diesen Winkel Frankreichs ein – Urlaub beim Lesen!
Und die schrulligen Charaktere sind einfach liebenswert.

Abgesehen davon, kann man auch viel daraus lernen, wenn man ein wenig tiefer liest.
Allein, die alten Herrschaften! Wie der Demenz Raum gegen wird, wie dem Liebeshunger älterer Menschen. Ja, ausgesprochen liebevoll!

In weiten Strecken erinnerte mich der Roman an „Clochemerle“ von Gabriel Chevalier, den humoristischen Klassiker Frankreichs.

„Der Liebeszauber des Monsieur Ladoucette“ steht nun neben ihm in meiner „Ewige-Lieblingsbücher-Liste“.

 

In der Umarmung des Vergessens XIII.

 

Der Besuch IV.

Heute geht es ihr nicht gut. Ich sehe es sofort. Das Gesicht ist teigig. Ihre Augen sind rot. Die Bewegungen fahrig.
Sie sitzt auf dem Bett. Ich muss ganz nahe kommen. Dass sie mich erkennt. Sie sieht besonders schlecht. Wenn es ihr nicht gut geht.
Ich setze mich neben sie. Lege den Arm um ihre Schulter.

»Geht es dir nicht gut?«
Sie sieht zu Boden. Das Kopfschütteln ist mehr ein Zittern.
»Ist etwas geschehen?«
»Ich habe nicht geschlafen. Keine Minute.« Ihre Stimme klingt weinerlich. Hoch. Kindlich.
»Oje, warum denn nicht?«
»Sie waren alle da.«
»Wer war da? Die Schwestern?«
»Sie war auch da.«
»Die Ärztin?«
»Sie war auch da.«
»Gut, dass du nicht allein warst.«
Sie lächelt. »Da kommen sie alle. Sie war auch da.«
Ich nehme ihre Hände. Streichle sie. Auch ihren Oberarm. Ihre Wange.
»Das kennst du doch schon. Jetzt wird es wieder besser.«
Sie lehnt sich an mich. Nickt.
»Du bist auch da.«