leg meine hand an deine wange

 
leg meine hand an deine wange
als kind schon hab ich das geliebt
immer hast du dann gelächelt
tust es auch jetzt mit leerem blick

stumm sitzen wir nebeneinander
die worte finden dich nicht mehr
ich mag die augen nicht abwenden
dein anblick bringt dich nah zu mir

ich sehe dich wie niemand anderer
für mich bist du nicht alt und grau
die schönste warst du für das kind
dein kind bin ich auch heut als frau

die menschen können nicht verstehen
was du in den momenten gibst
dass neben dir ich ruhig werde
weil mir die stille liebe spricht

sie alle sehen nur dein leiden
spüren nur ihre eigene angst
ihr menschenbild wird unmenschlich
dein leben zum unwert verdammt

leg meine hand an deine wange
fühl meine haut aus deiner haut
erinnere mein herzgewebe
das dich mit anderen augen schaut

© evelyne w.

leg meine hand - audio

 

 

In der Umarmung des Vergessens XVI.

 

Wie wird das sein

Wie wird das sein. Denke ich. Wie wird das sein. Wenn sie mich nicht mehr erkennt. Werde ich auch dann noch einen Draht zu ihr finden. Sie vergisst so viele Namen. Manchmal auch meinen.
Gestern hat sie ihren Sohn nicht erkannt. Nur kurz. Und doch. Sie weiß es. Das macht ihr Angst. Ich spüre sie. Ganz deutlich.
Wie wird das sein. Wenn sie mich nicht mehr erkennt. Wie wird das sein. Ich spüre meine Angst. Ganz deutlich.

(Schluss)

 

In der Umarmung des Vergessens XV.

 

Die einzige Antwort

Ich fühle mich. Hilflos. Ich kann sie nicht beaufsichtigen. Nicht einsperren.
Nicht beschützen. Vor sich selbst. Vor all dem, das sie nicht mehr weiß.
Die Hilflosigkeit zerrt. An meiner Geduld. Mit ihr.

Sie beugt sich nicht mehr. Geht ihren Weg.
Unbeeindruckt. Vom Gebot. Von jeder Bitte. Unbeeindruckt von Gefahr.

Warum? Hört sie denn nicht? Sieht sie denn nicht? Tut sie denn nicht?
Doch Warum ist keine Frage. Die man an diese Krankheit stellen kann.
Und die einzige Antwort ist: Die Umarmung des Vergessens.

 

In der Umarmung des Vergessens XIII.

 

Der Besuch IV.

Heute geht es ihr nicht gut. Ich sehe es sofort. Das Gesicht ist teigig. Ihre Augen sind rot. Die Bewegungen fahrig.
Sie sitzt auf dem Bett. Ich muss ganz nahe kommen. Dass sie mich erkennt. Sie sieht besonders schlecht. Wenn es ihr nicht gut geht.
Ich setze mich neben sie. Lege den Arm um ihre Schulter.

»Geht es dir nicht gut?«
Sie sieht zu Boden. Das Kopfschütteln ist mehr ein Zittern.
»Ist etwas geschehen?«
»Ich habe nicht geschlafen. Keine Minute.« Ihre Stimme klingt weinerlich. Hoch. Kindlich.
»Oje, warum denn nicht?«
»Sie waren alle da.«
»Wer war da? Die Schwestern?«
»Sie war auch da.«
»Die Ärztin?«
»Sie war auch da.«
»Gut, dass du nicht allein warst.«
Sie lächelt. »Da kommen sie alle. Sie war auch da.«
Ich nehme ihre Hände. Streichle sie. Auch ihren Oberarm. Ihre Wange.
»Das kennst du doch schon. Jetzt wird es wieder besser.«
Sie lehnt sich an mich. Nickt.
»Du bist auch da.«

 

In der Umarmung des Vergessens XII.

 

Von der Kraft

Es war nicht leicht. Nein. Ganz und gar nicht.
Es war nicht leicht. Ihr Weggleiten zu sehen. Es wahrhaben zu wollen. Zu können.
Sie war die Mutter. Ist plötzlich Kind.
Die Angst fraß sich in meinen Schoß. Der sie niemals geboren.
Die Angst fraß mich. Die ich aus ihrem Schoß geboren.
Ein Spiegel schob sich vor ihr Gesicht. Vor mein Gesicht.
Schon einmal ging ich ihren Weg. Beinah zu lang.

Es war nicht leicht. Nein. Ganz und gar nicht.
Doch endlich sah ich. Ihr Gesicht. Nicht mehr den Spiegel.
Sah den Weg. Zu ihr.
Von ihr.
Zu mir.

 

In der Umarmung des Vergessens XI.

 

Auch ohne Worte

Sie mag nicht essen. Will unbedingt, dass ich ihre Mahlzeit esse. Den Tee schüttet sie aus.
Nur Kekse. Will sie immer.

»Iss!«, drängt sie mich.
»Nein, ich esse erst später.«
Ihre Augen werden unruhig. Bleiben auf dem Papierkorb hängen. Sie schüttelt den Kopf.
»Dort kann ich nicht.«
»Dann lass es stehen. Die Schwester nimmt es wieder mit.«
»Iss du es.«
»Nein danke. Es ist dein Essen.«
Sie hebt den Teller auf. Stellt ihn wieder hin. Schüttelt erneut den Kopf.
»Dort kann ich nicht.«
»Schmeckt es dir nicht? Soll ich dir etwas mitbringen?«
Sie zuckt mit einer Achsel.
»Vielleicht … ein …« In ihrem Gesicht arbeitet es. »Ein … ein … du weißt schon …«
Ich denke nach, was sie immer gerne aß.
»Ein Schnitzel?«
Sie schaut zweifelnd drein.
»Einen gefüllten Paprika?«
Sie beißt sich auf die Lippen.
»Krautfleckerln?«
Sie sieht zu Boden.
»Na so … die …« Sie macht eine rollende Handbewegung.
»Fleisch?«
Kopfschütteln.
»Gemüse?«
Kopfschütteln.
»Du hast sie auch immer wollen. Ich habe sie für dich gemacht.«
Sie kochte gut. Wenn sie kochte. Wenn sie konnte. Es gab vieles. Das ich gerne aß. Wenn sie kochte. Wenn sie konnte.
»Nudeln, oder Reis oder so?«
»So ähnlich.« Ihre Hand rollt wieder durch die Luft.
»Was Süßes?«
Ihr Nicken wird deutlich.
»Palatschinken?«
»Ja!«, ruft sie. Klatscht in die Hände. Hüpft im Sitzen. Wie ein Kind.

Wieder geschafft …

 

In der Umarmung des Vergessens IX.

 

Theaterleben

Sie lebte auf einer Bühne. Spielte ein Stück. Das niemand verstand.
Ich brauchte Jahre. Es zu verstehen. Jahrzehnte.
Nach vorne strahlend. Immer freundlich. Perfekte Mutter. Geliebte Frau. Schönes Heim.
In den Kulissen wartete die Depression. Band ihr die Arme. Auf den Rücken.
Der Text kam aus dem Souffleurkasten. Für die Mutter. Für die Frau.
Auf dem Schnürboden hing schon das Vergessen. Auch das Vergessensein.

Der Vorhang wurde immer schwerer. Und doch. Tägliches Öffnen. Vor dem falschen Publikum.
Kein Applaus von mir. Nur von der Claque. Die in der ersten Reihe saß. Und von den Regisseuren in den weißen Mänteln.

Das neue Stück hieß Mitleid. Mit allem. Mit jedem. Nur nicht mit mir.
In den Pausen. Suche nach Botschaften. Von Hiob. Von Allen. Von Jedem. Nur nicht von mir.
Der Dialog wurde gestrichen. Der Monolog wurde geweint.

Das letzte Stück:
Perfekte Mutter. Noch immer. Das Spiel: Viele Besuche. Das gibt Applaus. Von ihr. Für sie.
Und in der Pause. Ein Eis. Von mir. Für sie.

 

In der Umarmung des Vergessens VIII.

 

Die Kinder waren wieder da

»Die Kinder waren wieder da.«
»Welche Kinder?«
»Ich kenne sie nicht. Aber sie hüpften auf dem Bett herum.«
»Waren sie allein?«
»Sie hüpften und warfen mit den Pölstern.«
»Hast du ihnen nicht gesagt, sie sollen aufhören?«
»Nein, es waren doch Kinder.«
»Und du? Was hast du gemacht?«
»Ich setzte mich hin und sah ihnen zu.«
»Waren sie lange hier?«
»Ich weiß nicht …«
»Wann waren sie hier?«
»Ich weiß nicht …«
»Warum hast du nicht die Schwester gerufen?«
»Ich konnte sie doch nicht allein lassen. Es waren doch Kinder.«
»Hat sie jemand abgeholt?«
»Nein.«
»Wo sind sie hingekommen?«
»Ich weiß nicht …«